Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
hörte er das wütende Hupen der hinter ihm stehenden Autofahrer, längst war die Ampel auf Grün gesprungen, er aber stand wie angeklebt, wie festgenagelt, wie ein unüberwindbarer Felsen. Arschlöcher, dachte er, ihr seid doch alle Arschlöcher, leckt mich doch!
Und dachte an Rasmus, an sein ständiges Gegrinse, mit dem er sich alles vom Leib hielt, dachte an das Krankenhaus und an die vielen Kranken, die dort lagen, an die schon beinahe Toten, dachte daran, dass er wegwollte, wegmusste, in ein anderes Leben, dachte an das Gekotze, an den Eiter, an die immer neuen Geschwüre.
Hinter ihm hupten sie, blinkten, wütend, genervt, es waren neue Geschwüre, andere, er stieß die Autotür auf, sprang raus, streckte die Mittelfinger und die Arme hoch, drehte sich um sich selbst, brüllte: »Erschießt mich, erschießt mich doch!«, und rannte los, quer über die Kreuzung, Arme und Finger immer noch hochgereckt, Bremsen quietschten, erneut Gehupe, Geschrei, das Auto mit offener Tür an der Ampel, ein Ärgernis, ein Würgebrocken, ein Magengeschwür.
Das U-Bahn-Zeichen kam in Sicht, er stürzte darauf zu, glitt treppab in die Schächte, in die Kathedralen der Stille, flutschte die Rolltreppen herunter und in einen Zug hinein, wurde ruhig im seltsamen Schweigen, das da herrschte.
Einmal hatte er gesehen, wie ein Jugendlicher Anlauf genommen hatte und in das Dröhnen eines Zuges gesprungen war, in das Dunkel der Schienen, der Junge verschwand in der Tiefe und Tonio dachte an Blut, an Hirnmasse, an Matsche, drehte sich und ging, weg vom Knäuel der Passagiere, die plötzlich vereint schienen im Entsetzen, im Aufschrei, im Gaffen.
Ihr Penner, hatte er geflüstert, ihr verdammten Penner!
Man kann ihr nicht entkommen, dachte er, als er die U-Bahn verließ und in die Menge eintauchte, die an ihm vorbeiströmte, mit Regenschirmen bewehrt und in Kapuzenjacken, meistens dunklen, man entkommt dieser Stadt nicht, sie scheißt dir ihren zähen, klebrigen Schleim ins Hirn, dann lässt sie dich los, ein bisschen nur, du springst wie von einem Trampolin, hebst kraftvoll ab, und sie holt dich zurück und scheißt dich wieder zu.
»Was hast du denn? Bist du nicht mit dem Auto gekommen?«, fragte Kristin, als er tropfnass zu Hause ankam. »Was ist denn los?«
»Nichts«, sagte er. »Was soll sein? Lass mich in Ruhe.«
Er ging ins Bad, legte sich in die Wanne und obwohl er es sich so sehr wünschte, löste er sich nicht auf.
Scheiße, dachte er, Scheiße, ich verliere die Kontrolle. Alles kam ihm zu nahe, fraß sich an ihn heran, das Krankenhaus, seine Station, die Krebsfälle, die Halbtoten. Ihre Augen waren schon umflort von anderen Welten, deren Existenz er allerdings bezweifelte.
Aber das konnte er ihnen nicht sagen, und wenn sie vom Übergang sprachen und vom Hineintreten in ein anderes Leben, in ein weißes, gelbes oder rotes, in was für eins auch immer, und nach seiner Hand griffen und um Zustimmung baten und die Bestätigung ihrer Hoffnung, dann glaubte er manchmal selbst zu sterben vor Mutlosigkeit und Scham, weil er diese Hoffnung, diese verfluchte, nicht im Geringsten hatte.
Es gab keine Abgrenzung mehr. Er spürte das. Alles drang in seine Gedanken, in seine Gefühle. Nicht einmal jetzt war er frei. Nicht einmal hier in seiner Badewanne, an seiner Waschmaschine. Später, das wusste er, würden die Bilder in seinen Schlaf kriechen, in seine Träume, wie Leguane oder Spinnen, würden ihre Netze auslegen und er würde sich darin verfangen, endgültig, würde ein klebriges Beutestück sein, ein Fleischbrocken, den sie aussaugten, und wenn er leer war, weg mit ihm und auf zu neuen Opfern.
Ja, so war das. So. Ein langsames Ersticken. Ein Verbrennen. Sie grub sich zu ihm heran, die Erschöpfung, eine diffuse Angst, in beständigen Wellen, sie schwappte hoch, machte ihn müde und langsam, nahm ihm die Luft, den Atem, blockierte sein Denken.
Er fröstelte. Und merkte, dass das Wasser kalt geworden war. Kristin steckte den Kopf herein. »Hast du Hunger?«, fragte sie.
Er nickte und wunderte sich über ihren versöhnlichen Ton und ihre Freundlichkeit, obwohl er sie doch vorhin so brüskiert hatte.
Als er aus dem Bad kam, hatte sie schon zu kochen begonnen und fragte: »Hast du den Brief geholt?«
Er wurde unwirsch. »Jeden Tag fragst du das. Was geht dich das eigentlich an?«
Sie blickte hoch, strich sich mit dem Handrücken eine Haarsträhne aus der Stirn. »Immerhin steht in der Benachrichtigung, dass es ein Notariatsbrief
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