Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
jedoch immer noch warm und gut und in tausend Tönen zwischen Blau und Grün.
Was waren diese ersten Tage schön! Sanft rollte die Gischt heran, sprühte ihre Nässe in den schwarzen Sand, dass er perlte wie blitzendes Gestein. Manchmal dampften in der Ferne große Schiffe vorbei, und die Wellen wurden zu wilden Brechern, spuckten bizarr geformte Steine.
»Diese Steine«, witzelten wir, »diese Steine sind Boten aus einer anderen Zeit. Diese Steine sind die Toten, die Ertrunkenen, die alten Griechen, die das Meer wieder ausspuckt. Odysseus vielleicht und Helena und Menelaos und Kassandra, die Seherin.«
Vielleicht war das zu viel. Vielleicht haben wir das Schicksal herausgefordert, und die Götter wollten ihre Opfergaben.
Der Sturm kam und nichts ging mehr, kein Herumlungern am Strand, kein Baden mehr, zu kühl, zu frisch. Wir wurden unruhig, schlechte Laune herrschte im Haus. Tonio öffnete ständig die Fenster, ließ den Wind herein, man hörte das laute Meer und den Sturm ums Haus. Die Vorhänge bauschten sich, die Fenster klirrten in den Rahmen.
In der Küche türmte sich das Geschirr, Teller mit Essensresten, die die Fliegen anzogen, unverschlossene Weinflaschen, abgestandenes Gebräu darin, hartes Brot.
Ich weiß nicht, warum wir es nicht geschafft haben, Ordnung herzustellen, und ob dieses äußere Chaos der Grund dafür war, dass auch in uns alles durcheinandergeriet.
Tonio und ich verbrachten Stunden im Bett, auch untertags, kümmerten uns nicht um Gertrud, die für sich blieb.
»Warum geht sie nicht ins Dorf«, sagte Tonio ärgerlich, wenn ich Bedenken äußerte, dass wir sie nicht so lange alleine lassen sollten. »Da gibt es eine Reihe unverheirateter Kerle. Warum vergnügt sie sich nicht auch?«
Ich schwieg. Ich sagte ihm nicht, dass ich begonnen hatte, in ihren Augen zu sehen, in ihrer Nähe zu spüren, was sie für mich empfand. Wahrscheinlich aber wusste Tonio es ohnehin, denn er wurde aggressiv ihr gegenüber, böse, unwirsch, ließ mich nicht mehr mit ihr allein, belauerte uns.
Vielleicht hatte Gertrud uns auch gehört in unserem Zimmer, in unserem Bett. Wir sind nie leise gewesen. Wir haben gelacht, gestöhnt, geseufzt. Tonio sagte: »Das ist eben so beim Vögeln.« Und dann war es so. Aber vielleicht hat sie uns gehört und es hat ihren Groll geschürt, ihre Traurigkeit.
Und dann kam jene Nacht. Von der ich wenig weiß. Eigentlich gar nichts. Weil ich geschlafen habe. Und als ich am Morgen erwachte, war alles anders. Als ich erwachte, saß Gertrud auf der anderen Seite des Bettes. Ich sah ihren Rücken, sah, dass sie zitterte.
Du hast gezittert, Gertrud, du hast dich nicht umgedreht, als ich dich ansprach, hast nicht reagiert. Ich hab mich aufgerichtet, dir zugewandt. Du hast geweint, still, lautlos, aber so, dass du am ganzen Körper gezittert hast. Ich habe nichts gefragt, ich habe aus dem Fenster geschaut. Der Sturm hatte nachgelassen, ich habe es sofort gemerkt, ich dachte, gut, wir werden wieder baden, vielleicht nicht heute, aber morgen, ja, morgen, und alles wird sich normalisieren, alles wird wieder gut zwischen uns dreien.
Aber dann …
… aber dann habe ich den Aufruhr am Strand bemerkt, dort, wo wir immer ins Wasser gegangen waren, wo die Wellen uns umspülten, an unseren Füßen leckten und sachte hoch an den Beinen.
Dort herrschte Aufruhr, Menschen waren da, viele, scharten sich um einen Punkt. Ich bin los, einfach so, ohne etwas zu spüren, einfach so, ganz langsam am Anfang. Aber dann …
Ich weiß nicht, warum ich die letzten Schritte hin zu dieser Menschenmauer zu laufen begonnen habe. Ich weiß es nicht, Gertrud.
Aber da lag er dann. Da hatten sie ihn hingelegt. Da war er so still, so leise, schon so starr.
52 Der Gerichtsmediziner Dr. Borger hatte ausgezeichnet zu Abend gegessen, sich anschließend eine Zigarre genehmigt, dazu einen Espresso und einen Cognac genossen und eine interessante Entdeckung gemacht.
53 »Ich schreie«, habe ich in Gertruds Küche gesagt. »In manchen Nächten, in manchen Träumen schreie ich seinen Namen.«
Aber es hört mich keiner, Tonio am allerwenigsten. Ich sehe ihn laufen. Alles geht rasend schnell. Er läuft und läuft, hinaus ins Wasser, in die tosende Brandung, bleibt nicht stehen. Er ist allein. Er ist glücklich. Er will das Wasser auf der Haut fühlen. Den Wind, der längst zum Sturm geworden ist. Wie geil das sei, das Wasser wie Öl auf der Haut, der Wind wie Samt. Wie oft hat er das gesagt.
Sein Gesicht leuchtet
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