Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
die Schultern, wandte sich ab. Ich sah die Briefe vor mir, unsere Handschrift, die Farbe der Tinte, die manchmal wechselte, wie es uns gerade gefiel.
… geliebte hanna …
Dass die Tage leer seien und voller Trübsal. Dass er mich erwarte, die Geliebte. Mit jeder Faser seines Herzens. Wo ich bliebe. Wo ich sei. Dass er sich sehne. Dass ich ihm fehlte. Dass ich ihm immer gefehlt hätte. Zeit seines Lebens. Immer. Und jetzt. Sobald ich den Raum verließe. Dass mein Körper sein Krug sei, seine Kanne. Dass seine Seele sich in mir gefunden habe, endlich, und sein Herz, endlich, sei erwacht. Durch mich. Dass er zerfalle ohne mich. Und sich auflöse ohne mich. Als hätte er niemals gelebt. … a ls hätte ich niemals gelebt …
Und er ist zerfallen. Hat sich aufgelöst. Aber er hat … gelebt. Das ist ein Trost.
Langsam kam sein Tod mir nahe. Langsam spürte ich das blaue Schweben in Gertruds Küche, einen Dunst; vielleicht sind es auch nur die Zwetschgen gewesen, der Schnaps, den wir auf unser Wiedersehen getrunken haben, der uns lustig und fröhlich machte. Alles wurde wie ein Spiel, ein Kammerspiel vom Tod und vom Leben.
Ich erinnerte mich plötzlich an das Zeitungsfoto in Schwarzweiß, dieses Bild, das mich durch die Welt begleitet hat – der Tote und ich, Tonio und Hanna, ein zerknittertes Stück Wirklichkeit, das wahrer und schmerzhafter wurde, je grauer der Schemen sich verdichtete, der auf ihm lag. Auf der Heimfahrt erst, der endgültigen, habe ich das Foto zerrissen, gebeugt aus dem Zugfenster sah ich im nächtlichen Fahrtwind die Papierfetzchen rasch und unwiederbringlich aus meinem Blickfeld entschwinden.
Und nun?
Rekonstruktion eines Todes. Damals. Was geschehen ist. Ein Schmerz, der immer noch schmerzt, eine Wunde, die immer noch blutet. In der Mitte des Septembers bangen wir vor dem endgültigen Aufbrechen der Erinnerung.
»Lass die Vergangenheit ruhen«, hat Gertrud gesagt, »diese alten Geschichten sind doch gar nicht mehr wahr.« Unwirsch hat sie es gesagt, ängstlich sogar, und laut, laut genug, um den Faden zu zerschneiden, der sich von damals herüber spinnen will. Im Altweibersommer spinnen die Weiber ihre Fäden in die Zeit und die Zeit zerfällt und wird eins.
49 Sie würden keinen Übersetzer mehr brauchen. Alles, was wichtig war, fanden sie hier, übersetzte Polizeiberichte, Briefe, Zeitungsausschnitte, ebenfalls übersetzt und sorglich nach Datum und Abfolge der Ereignisse abgelegt. Akribisch hatte Ernst Köhler den Tod seines einzigen Sohnes dokumentiert und der Nachwelt überlassen, damit diese sich ein Bild machen konnte über das Unglück, das in Griechenland geschehen war.
Drei beteiligte Personen hatte es gegeben, allesamt waren sie den Ermittlern nicht unbekannt. Tonio Köhler, Hanna Umlauf und Gertrud Rabinsky, damals noch Gertrud Brendler.
Die kargen Fakten waren, dass sie zu dritt Urlaub auf Kos im Haus von Gertruds Eltern gemacht hatten. Der Sommer klang aus, der Beginn des neuen Studienjahres stand bevor. Eines Nachts, etwa zwei Wochen nach der Ankunft des Trios, das von den Bewirtschaftern einer nahe liegenden Taverne als freundlich und nett, vielleicht ein bisschen verrückt beschrieben wurde, hatte Tonio die wahnsinnige Idee, im aufgewühlten schwarzen Meer schwimmen gehen zu wollen. Seit mehreren Tagen schon gab es Sturmwarnung, keine Schwimmer im Wasser, keine Boote. Die Fischer fluchten, die wenigen Urlauber, die es um diese Zeit noch auf der Insel gab, fluchten, aber man fügte sich, was sollte man sonst auch tun. Sich der Gewalt des Meeres auszusetzen wagte keiner.
Nur Tonio. In jener verfluchten Nacht. Zuerst betrank er sich, dann stakste er ins Wasser, warf sich in die Wellen und schrie und brüllte vor Begeisterung. Immer weiter wagte er sich hinaus, die Wellen trugen ihn, warfen ihn hin und her, bis er irgendwann in der Brandung zerschellte.
Gertrud, die dabei gewesen war, die in den Akten als einzige Zeugin angeführt war, hatte ausgesagt, er habe sich durch nichts abhalten lassen, durch nichts. Dass sie alles versucht habe, aber erfolglos. Er sei ins Meer hinein, in den Sturm, er habe geschrien und gelacht, und zuerst habe die Dunkelheit ihn verschluckt und dann … das Meer.
Hanna hatte schon geschlafen, hatte erst am Morgen von dem Unglück erfahren, war dabei gewesen, als die Küstenwache den Leichnam barg, der zurück an den Strand geschwemmt worden war. Bevor man ihn nach Deutschland, nach Hause überführte, hatten sie sein Blut untersucht.
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