Rabenschwestern: Kriminalroman (Ein Franza-Oberwieser-Krimi) (German Edition)
stimmte es, vielleicht nicht, wahrscheinlich stimmte es, denn es war wohl unwahrscheinlich, dass ein Mann wie Tonio Wie-immer-er-dann-hieß mit seinem Leben hausieren ging und seinen Nachbarn Namen und Adresse aufdrängte, wenn er vorgehabt hatte, was er eben offensichtlich vorgehabt hatte.
Sie gingen, war spät geworden, morgen auch noch ein Tag.
50 Es war knapp gewesen. Sehr knapp. Er hatte auf dem Klo gesessen, Gott sei Dank steckte das Handy in der Hosentasche, so dass Kristin ihn hatte erreichen können. Sie war losgegangen, um etwas zu essen zu besorgen, schon wieder alles leer, alles weggefuttert. Sie hatten Appetit gehabt, die Entwicklungen überschlugen sich, das Mädchen …
Er hatte Kaffee und Wasser in die alte Filterkaffeemaschine seines Großvaters gefüllt, sie gehörte zu den wenigen Dingen, die er nicht entsorgt hatte.
Dann Klo, entspannte Sitzung, paar Minuten Ruhe, doch plötzlich das Handy. Er hatte geflucht, hatte natürlich gewusst, dass es Kristin war, kein anderer hatte die Nummer des Prepaidhandys, das er sich zugelegt hatte, als er aus seinem alten Leben verschwunden war.
»Scheiße«, fluchte er und musste grinsen, weil er das irgendwie witzig und passend fand, »nicht mal auf dem Klo lässt die Klette einen zufrieden«, überlegte kurz, ob er abheben sollte, tat es schließlich.
»Polizei«, sagte sie und klang nur ein bisschen nervös, »sie suchen dich. Da ist einer, der hat ein Phantombild von dir.«
»Scheiße«, sagte er.
»Hör zu«, sagte sie, »verlier jetzt nicht die Nerven! Bleib ruhig. Er redet gerade mit einer Frau aus dem Haus, die dich zu kennen scheint. Er wird reingehen, da bin ich sicher. Versuch ihn auszutricksen. Komm irgendwie raus. Wenn er die Treppe nimmt, dann nimmst du den Lift. Mach es irgendwie. Verlier nicht die Nerven. Wir ziehen das jetzt durch.«
Ihre Stimme klang wie ein metallisches Stakkato in seinen Ohren, er nickte unentwegt und dachte nicht daran, dass sie das nicht hören konnte. »Bist du noch da?«, rief sie, »sag was!«
»Ja«, sagte er und hatte kaum Stimme, weil ihm vor Herzrasen die Kehle wie zugeschnürt war. »Warte auf mich bei deinem Auto.«
»Beeil dich«, sagte sie, »mach!«
Dann war sie weg, und für einen winzigen Moment fühlte er sich allein wie nie zuvor in seinem Leben. Nicht wie damals, als er von zu Hause abgehauen war, nicht, als er seine Stadt verlassen hatte, nicht als Gertrud Rabinsky plötzlich sterbend in ihrer Küche gelegen hatte.
Er spürte, wie er zitterte, und befahl sich damit aufzuhören. Es funktionierte und staunend schlich er zur Wohnungstür, öffnete sie vorsichtig und lauschte hinaus ins Treppenhaus. Der Lift stand still, von unten drangen Stimmen herauf. Die Stimme eines Mannes, die er nicht kannte, die Stimme einer Frau, die er wohl kannte, die alte Frau Steigermann aus der Wohnung unter ihm. Dann hörte er eine Tür, die Stimmen wurden leiser, waren nicht mehr zu hören, verloren sich in der Wohnung.
Er warf kurz einen Blick zurück in den Flur, spürte einen Augenblick des Bedauerns, ahnte, er würde kaum zurückkehren, trat hinaus ins Treppenhaus, schloss leise die Wohnungstür. Keine Zeit etwas mitzunehmen, keine Zeit für sentimentales Abschiedsgewäsch. Der Lift war da, kein zeitraubendes Warten, er fuhr hinunter ins Erdgeschoss, drückte vorsichtig und abwartend die Tür auf, niemand zu sehen, Stille auf dem Gang, er schlüpfte hinaus, lief zur Haustür, sie schwang auf und er fühlte sich … frei … unendlich frei.
Hinter dem Haus wartete Kristin im Auto, er stieg ein, sie startete den Wagen. »Wir bringen es zu Ende«, sagte sie, fuhr los.
Das Mädchen fiel ihm ein. »Lilli«, sagte er.
Kristin winkte ab. »Egal«, sagte sie, »dafür ist jetzt keine Zeit.«
51 Tonios Tod.
Der schnell kam und völlig unerwartet. Der kein natürlicher war.
Über ihn nachzudenken, ihn ein weiteres Mal zu erleben, wenn auch nur in Gedanken, fällt schwer. Immer noch. Manche Erinnerungen wiegen schwer. Aber ich stelle mich jetzt.
Versatzstücke zusammensetzen, Puzzleteile suchen. Beginnender Herbst. Tonios Tod.
Ein Haus in Griechenland, weiß mit blauen Türen und Fensterrahmen, nah am Strand, nicht zu nah. Weit weg vom Dorf. Gerade noch nah genug.
Wir in diesem Haus, an diesem Meer. Verschwimmende Zeit.
Das Land umgab uns nicht mehr mit den gleißenden Farben des südlichen Sommers, ein wenig herbstlich und milde war es schon, rotgolden die Sonne, nicht mehr beißend und sengend, das Meer
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