Rabenvieh (German Edition)
konnte. Nachts lag ich deshalb oft wach und mir lief das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an Essen dachte. Einige Tage nach meiner Aktion mit dem Mineralwasser konnte ich vor Hunger wieder einmal nicht einschlafen. Im Gemüsekeller war weder Obst noch frisches Gemüse lagernd. Die einzige Möglichkeit an Essen zu kommen, bot sich mir nur, wenn ich mich am Inhalt der Gefriertruhe im Keller bedienen würde. Der Gedanke Gefrorenes zu essen und mir möglicherweise gehörig den Magen zu verderben, war kein schöner, aber immerhin besser als eine weitere Nacht mit knurrendem Magen keinen Schlaf finden zu können. Ich inspizierte zunächst einmal den gesamten Inhalt der Truhe, bis ich letztendlich eine Handvoll gefrorene Pommes und ein Stück von einem selbst gebackenen Kuchen entnahm. Damit verschwand ich in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und begann gierig daran zu knabbern. So lange, bis nichts mehr davon übrig war. Meine Kehle und mein Magen fühlten sich hinterher mindestens so kalt an, wie das Gefrorene in der Tiefkühltruhe. Mit dem Gedanken, dass ich für meinen Diebstahl unter Garantie bald bitter bezahlen würde, schlief ich irgendwann ein. Die darauf folgenden Abende entnahm ich immer wieder Gefrorenes aus der Tiefkühltruhe. Ich dachte mir, dass es schon egal wäre, ob nur ein paar Pommes und ein Stück Kuchen oder gleich mehrere Dinge fehlen würden, denn die Strafe würde ohnehin dieselbe sein. Ich saß in meinem Zimmer wie ein Häftling in seiner Todeszelle und verspeiste die leckeren Sachen so, als würde es sich jedes Mal um meine Henkersmahlzeit handeln. Natürlich dauerte es nicht lange, bis ich mit meinen Taten aufflog. Die Art der Bestrafung für meine Diebstähle zählte zu eine meiner gefürchtetsten in all den Jahren. Die Haarwäsche. Vor der Badewanne kniend, die Hände am Rücken zusammengebunden, goss man mir siedend heißes Wasser über meinen Kopf. Um die Laute meines Wimmerns, Schluchzens und lautstarken Weinens für die angrenzende Nachbarschaft abzudämmen, bekam ich vorab einen stinkenden Fetzen oder ein schmutziges Handtuch um den Mund gebunden. Die Haarwäsche an diesem Tag, durchgeführt von meiner Pflegemutter, war die schlimmste in all den Jahren. Mir war, als würde sich an diesem Tag das siedend heiße Wasser durch meinen Kopf hindurchbrennen und mein Gehirn wegschmelzen. Die darauf folgenden Nächte schlief ich, sofern man überhaupt von Schlaf reden konnte, im Sitzen, da es aufgrund der Schmerzen nicht möglich war, meinen Kopf auf das Polster zu legen oder an überhaupt irgendetwas anzulehnen. Meine Haare zu kämmen, daran brauchte ich nicht einmal denken. Ich entwendete einen mit Terpentin und Öl gedrängten Fetzen von der Werkzeugbank, holte meine Vorratsflasche Wasser hinter dem Schrank hervor, tränkte den Fetzen mit Wasser und legte ihn mir auf den Kopf. Sitzend, mit dem stinkenden Lappen auf dem Kopf, döste ich so die darauf folgenden Nächte dahin. Neben der Haarwäsche bekam ich natürlich noch meine üblichen Prügel, und außerdem noch, die nächsten Tage nichts zu essen. Stattdessen musste ich, wenn meine Pflegeeltern am Tisch saßen und aßen, neben ihnen Platz nehmen und ihnen beim Essen zusehen. Abwechselnd bekam ich von beiden Faustschläge ins Gesicht, um mir in Erinnerung zu rufen, dass mir das, was ich mir nahm, nicht zustand.
Seit der Essens-und Mineralwasseraktion waren einige Wochen vergangen. An einem Nachmittag, nachdem ich wieder in den Keller gesperrt wurde, verspürte ich plötzlich ein beklemmendes Gefühl. Ich bekam feuchte Hände, mein Herz begann wie wild zu schlagen und mir war, als würde ich jeden Moment den Boden unter meinen Füßen verlieren. Ich fühlte mich nicht unbedingt krank, es war einfach ein Befinden, das ich zunächst nicht einordnen konnte. Anfangs verschwanden diese Symptome so rasch, wie sie aufgetreten waren. Doch mit zunehmender Zeit kamen sie in immer kürzeren Abständen und nicht nur das, sie nahmen auch an Intensität zu. Irgendwann war mir klar, was es war.
Von nun an hatte ich einen Begleiter. Einen, der mich permanent im Würgegriff hatte und mir die Luft zum Atmen nahm. Er nannte sich Angst. Angst, für immer im Keller eingesperrt zu sein und nicht entkommen zu können. Angst, vergessen zu werden, Angst vor Kälte. Angst bei starkem Regen zu ertrinken und Angst vor der Finsternis. Angst vor meinen Pflegeeltern und Angst, bereits im Kindesalter völlig überzuschnappen. Dass Angst auch noch eine Steigerungsform
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