Rabenvieh (German Edition)
Eltern, die mit ihren Kindern in der Freizeit Spiele spielten oder ins Kino gingen und Eltern, die zeigten, wie stolz sie auf ihr Kind waren. Wie gerne hätte ich dieses Gefühl nur ein einziges Mal verspürt. Dass mich zu Hause für mein Zuspätkommen Schläge erwarteten, verbannte ich in den Hintergrund. Viele Male machte ich mich erst bei Einbruch der Dunkelheit auf den Heimweg. Wie erwartet gab es zu Hause statt Essen, verbale Erniedrigungen und Schläge - anschließend ging es ab in den Keller.
Friederike und Sybille mussten weder im Haushalt noch im Garten helfen. Die beiden Prinzessinnen hatten Wichtigeres zu tun, als mit anzupacken. Das Erste, was ich zu erledigen hatte, wenn ich von der Schule nach Hause kam, war, dass ich für meine Pflegemutter zum einen Kilometer entfernten Gasthaus gehen musste, um ihr Zigaretten zu holen. Sie wartete für diesen Zweck bereits auf mich im Stiegenhaus und drückte mir wortlos einen Geldschein in die Hand. Während ich auf dem Weg dorthin war, durchsuchte sie meine Schultasche. Fand sie Papierschnipsel oder ein Eselsohr an einem meiner Hefte gab es nach meiner Rückkehr gleich wieder Schläge. Sofern ich ein Essen bekam, machte ich mich danach an meine Hausaufgaben und an die Arbeit in der Küche oder im Garten. Geschirr spülen, Staubsaugen, Unkraut jäten, Rasen zusammenrechen, Grünschnitt entsorgen und Holzarbeiten waren an der Tagesordnung. Freundschaften konnte ich so gut wie keine pflegen, da ich derartig isoliert aufwuchs und hatte ich einmal jemanden, mit dem ich tratschen konnte, unterband man diesen Kontakt sofort, da meine Pflegeeltern wieder befürchteten, dass ich etwas ausplaudern könnte. Abends fiel ich todmüde ins Bett, was jedoch nicht hieß, dass ich schlafen konnte, denn der Keller war alles andere als ein behaglicher Ort. Unausgeschlafen ging es am nächsten Tag wieder in die Schule. Konzentrationsprobleme und mehrmaliges Einnicken während der Schulstunde führten dazu, dass meine Klassenlehrerin in mein Mitteilungsheft schrieb, dass ich früher zu Bett gehen sollte. An solch unausgeschlafenen Tagen gab es dann zu allem Überfluss oft auch noch Leseübung als Hausaufgabe. Allein das Wort Leseübung meiner Klassenlehrerin reichte aus, damit sich mein Magen verkrampfte. Bereits auf dem Nachhauseweg wurde mir ganz angst und bange und ich spürte, wie ich innerlich immer mehr zu frieren begann. Immerhin wusste ich, was die folgenden Stunden für mich noch so bereithielten. Mit mir das Lesen zu üben, war meist Sache meines Pflegevaters. Welch willkommene Gelegenheit für ihn, mir wieder einmal seine Gewaltbereitschaft hautnah spüren zu lassen. Bis ich überhaupt einmal anfing zu lesen, dauerte es schon mal eine halbe Ewigkeit. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und mir war schon vorab zum Weinen zumute. Sehr zum Ärgernis meines Pflegevaters, der links davon, ganz dicht neben mir saß. Mehrmals schielte ich ihn von der Seite an, um ungefähr abschätzen zu können, bis wann ich mit dem ersten Schlag zu rechnen hatte. Nach mehreren Anläufen und mit zittriger Stimme begann ich schließlich die ersten Sätze vorzulesen. Vom flüssigen Lesen weit und breit natürlich keine Spur. Um mich davor zu warnen, nicht noch einmal so schlampig zu lesen, nahm er mich schon mal am Hinterkopf an den Haaren. Mit seinem festen Griff und der Androhung, dass bald etwas passieren würde, sofern ich nicht zu spuren anfange, gab er mir die Chance, den Satz nochmals zu lesen. Trotz intensivster Bemühungen scheiterte ich. Ich hatte den Satz nicht einmal noch zur Gänze fertig gelesen, da machte meine Stirn bereits das erste Mal Bekanntschaft mit der Tischkante. Um ihm die Leichtigkeit des Aufschlagens auf den Tisch zu erschweren, versuchte ich mich so steif wie möglich zu machen. Gegen die Kraft eines ausgewachsenen Mannes hatte ich allerdings nicht die geringste Chance. Ein weiterer Leseversuch – ein weiterer Schlag. Unzählige Male donnerte er meinen Kopf gegen die Tischkante. Dass ich mit jedem Schlag auf die Tischkante ängstlicher wurde und, dass mir jedes Mal Blut aus der Nase schoss, hinderte ihn nicht daran, damit aufzuhören. Ich versuchte den Blutfluss immer damit zu stoppen, indem ich durch die Nase einatmete und mir das Blut wieder hochzog. In der Regel war die Leseübung erst dann beendet, wenn ich jedes Wort richtig aussprechen und jeden Satz richtig betonen konnte. Ab und an hatte ich allerdings auch Glück und ich durfte die Übung schon vorab beenden. Das
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