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Rabenzauber

Rabenzauber

Titel: Rabenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
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ging zu seinem immer noch nicht ausgepackten Rucksack, holte die Landkarte heraus, legte sie auf den Tisch und zog sich zu einer Wand zurück, die näher an Rinnie war als an den vielen Leuten am Tisch.
    »Willst du nicht schlafen gehen, Jes?«, fragte Rinnie nicht zum ersten Mal. »Ich kann das Abendessen auch alleine machen.« Sie verzichtete taktvoll darauf, ihm zu sagen, dass er ihr mehr im Weg war als hilfreich.
    »Nimm unser Bett, Sohn«, sagte Tier, eine Aufforderung, die die Kraft eines Befehls hatte. »Neben Lehr ist noch Platz. Wenn du schon nicht schlafen kannst, ruh dich wenigstens eine Weile aus.«

    Jes erstarrte. »Hier sind zu viele Menschen. Ich kann nicht schlafen, wenn alle anderen wach sind.«
    Das stimmte wahrscheinlich. Seraph sah ihren Sohn nachdenklich an. »Wäre es draußen einfacher?«, fragte sie. »Oder stört dich die Sonne?«
    Jes schüttelte den Kopf. Sie sah, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, denn er vermied sorgfältig, die anderen direkt anzusehen.
    »Er ist übermüdet«, sagte Hennea plötzlich. »Wenn er jetzt einschläft, wird er zu tief schlafen. Er kann sich im Wald nicht schützen, und der Hüter wird ihm nicht gestatten, es zu versuchen.« Sie legte die Landkarte beiseite, die sie sich gerade angesehen hatte, und fuhr fort: »Aber er wird mir erlauben, über ihn zu wachen.«
    »Ja«, sagte Jes sehr leise.
    »Dann hol dir eine oder zwei Decken, Jes.« Hennea stand auf und warf erst Tier und dann Seraph einen scharfen Blick zu - vielleicht rechnete sie mit Widerspruch.
    Seraph ging davon aus, dass ein Spaziergang im Wald Hennea ebenso guttun würde wie ihr vor ein paar Stunden. Ihr war aufgefallen, dass Henneas Gelassenheit langsam nachließ. Sie brauchte einen abgeschiedenen Ort, an dem sie um Benrolns Clan trauern konnte - und Jes brauchte Ruhe.
    »Ich werde hier ohnehin zu nichts gut sein«, sagte Hennea beinahe verärgert zu Seraph. »Wer immer diese Landkarten zeichnete, kannte sich damit noch weniger aus als ich. Sie stimmen nicht einmal miteinander überein.«
    »Wir werden weiter daran arbeiten, während ihr weg seid«, versprach Seraph. Und in der Sprache der Reisenden fügte sie hinzu: »Ich vertraue dir meinen Sohn an, Rabe.«
    Ein breites Spektrum von Gefühlen zuckte über Henneas Gesicht. »Du bist zu vertrauensselig«, erwiderte sie in derselben Sprache.

    »Das glaube ich nicht.«
    Tier öffnete ihnen die Tür. »Jes?«
    Ihr Sohn drehte sich um, so offensichtlich mit letzter Kraft, dass Seraph heftig gegen den Impuls ankämpfen musste, zu ihm zu gehen und ihn zu umarmen. Aber ihre Berührung würde ihm nur wehtun, also blieb sie, wo sie war.
    »Danke, dass du mit Lehr nach Colbern gegangen bist, Sohn«, sagte Tier. »Wenn du nicht da gewesen wärest, wäre er gestorben.«
    Jes packte die Decken ein wenig fester und nickte.
     
    Hennea ließ Jes seinen eigenen Weg wählen und folgte ihm in genügend Abstand, dass keine Gefahr bestand, ihn zufällig zu berühren. Er war zu müde, um mit ihrem Mangel an Beherrschung fertig werden zu können.
    Zeit war eine seltsame Sache. In dem einen Augenblick konnte man noch mit jemandem sprechen, und dann war diese Person plötzlich nicht mehr da. Manchmal dachte sie, es sollte eine Möglichkeit geben, die Zeit zurückzudrehen und die Ereignisse zu verändern. Eine Stunde, eine Minute, sie waren so schnell vergangen … sie umzukehren, sollte nicht unmöglich sein. Aber sie hatte nie eine Möglichkeit gefunden, das zu tun.
    Ein weiterer Clan war tot. Mehr Menschen, die sie gekannt hatte und niemals wiedersehen würde. Sie fühlte sich … leer.
    Jes schwieg. Bei seinem schlenkernden Gang hätte er eigentlich dauernd stolpern sollen, aber irgendwie schien sein Fuß immer sicher auf der anderen Seite von Bruchholz, Steinen oder Löchern aufzukommen.
    Hennea schwieg ebenfalls. Sie wusste nicht einmal, ob sie hätte mit ihm sprechen können, wenn sie es versucht hätte.
    Sie verstand, was Seraph gerade getan hatte, obwohl sie annahm, dass weder Jes noch Tier wussten, dass Seraphs Worte
aus einer Hochzeitszeremonie der Reisenden stammten. Der Zeremonie, bei der die Eltern ihren Sohn der Obhut ihrer künftigen Schwiegertochter anvertrauten.
    Hennea wollte nicht daran denken, und auch nicht an Tod oder den Schatten.
    Sie hob das Gesicht zur Sonne und versuchte, ihre Gedanken abzuschalten, als gäbe es in diesem Augenblick nichts weiter als die Wärme auf ihrem Gesicht, den Geruch nach Bäumen und Gras, den Gesang der Vögel und

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