Rabenzauber
daran erinnert, dass Tier keine Geschichten mehr erzählte und nicht mehr sang.
Aber dann rief sie: »Tier?« und drückte Hennea die Landkarten in die Hand.
Hennea sah zu Seraphs Mann, der neben seinem Pferd stand und ins Nichts zu starren schien, das Gesicht ausdrucksloser, als sie es jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Hennea schob den Stadtplan wieder in die Tasche und stellte sie auf den trockenen Boden unter dem Vordach, dann folgte sie Seraph. Nicht, dass sie gewusst hätte, was sie für ihn tun könnte.
Er hatte so etwas schon öfter gehabt, und mehrmals täglich. Es war nicht so dramatisch wie der Anfall von vor ein paar Tagen, bevor sie nach Schattenfall gekommen waren, aber beängstigend genug.
»Tier?« Seraph sprach leise, damit sie die jungen Männer bei ihren Nachforschungen nicht störte. Hennea bemerkte jedoch, dass Jes trotzdem aufblickte.
Seraph berührte Tier am Arm. »Tier?«
Nach und nach kehrte die Persönlichkeit wieder auf sein Gesicht zurück, und er blinzelte und wirkte ein wenig überrascht. »Seraph, wo kommst du so plötzlich her? Ich dachte, du siehst dir mit Hennea den Stadtplan an.«
Seraph lächelte, als wäre alles in Ordnung. »Hennea sagt, das hier ist die Altstadt. Diese Häuser waren schon alt, als die Stadt starb.«
Tier musste ihr etwas angesehen haben, das Hennea entgangen war, denn er berührte ihre Wange und sagte leise: »Ich habe es schon wieder gemacht, wie? Das ist heute schon das zweite Mal.«
Das dritte Mal, dachte Hennea, aber sie verbesserte ihn nicht.
»Nehmen wir uns noch einmal den Stadtplan vor, und sehen wir, ob wir die Bibliothek finden können. Wenn wir in einer Stadt der Zauberer nach Informationen suchen, wäre die Bibliothek wohl der beste Ort, um damit anzufangen.« Er sah Hennea an. »Kannst du den Stadtplan gut genug lesen, um uns dorthin zu führen?«
Nichts anderes als freundliches Interesse war ihm anzusehen. Tapfer, dachte Hennea. Sie räusperte sich und antwortete aus dem Gedächtnis: »Sie liegt in der nördlichen Stadtmitte. Bis dahin sind es noch mehrere Meilen, wenn der Maßstab des Stadtplans stimmt. Lasst mich nachsehen und den kürzesten Weg finden.«
Wenn Seraph sie nicht zusammengeholt hätte, um zur Bibliothek zu reiten, wären die anderen sicher damit zufrieden gewesen, die Altstadt weiter zu erforschen. Aber sie hatten auch nichts dagegen, wieder aufzusteigen und stattdessen nach der Bibliothek zu suchen.
Die Pferdehufe klapperten auf dem Pflaster unnatürlich laut, und das Geräusch hallte von den Häusern rings umher wider. Je weiter sie sich vom Stadttor entfernten, desto größer und aufwendiger wurden die Häuser - einige waren so groß wie die der reichsten Kaufleute in Taela -, und Seraph sah zum ersten Mal die grünen, mit Keramikschindeln gedeckten Dächer, an die sie sich von den Mermori erinnerte.
An einer Straße, in der alle Häuser Wand an Wand standen, gab es mitten in der Zeile eine Lücke, in der ein weiteres Gebäude hätte stehen sollen. Als sie näher herankamen, konnte Seraph sehen, dass hier nicht nur ein Haus fehlte, sondern die Lücke ein halbes Stockwerk tief mit den Trümmern gefüllt war. Sie erkannte an den benachbarten Wänden, wo ein Dach beide Seiten der Nebenhäuser berührt hatte.
»Es ist, als hätte die Magie dieses eine Haus nicht geschützt, aber die anderen auf beiden Seiten sehr wohl«, stellte Hennea fest. »So wie diese Ruine hier hätte die ganze Stadt aussehen sollen.«
Sie fanden noch andere Lücken in ansonsten vollkommen erhaltenen Häuserzeilen, Stellen, an denen einmal Gebäude gestanden hatten, es nun aber keine mehr gab. Manchmal war
dort nichts mehr als leerer Boden zu sehen, an anderen Stellen fanden sie steinerne Fundamente oder Trümmerhaufen.
»Papa, sieh nur, da ist eine Eule!«, sagte Rinnie und zeigte eine schmale Seitenstraße entlang, die vor einem großen Gebäude aus Granit endete. Direkt vor dem offen stehenden Eingang befand sich eine Säule, auf der die übergroße Statue einer Eule angebracht war, die Flügel halb geöffnet, als werde sie jeden Augenblick auffliegen.
Tier konnte seine Neugier einfach nicht zügeln und lenkte Scheck in diese Seitenstraße.
Ein Augenblick oder zwei würden kaum etwas ausmachen, dachte Seraph. Selbst wenn sie die Bibliothek finden und es ihnen gelingen sollte, sie zu betreten - etwas, das nach ihren Problemen mit den Gebäuden, bei denen sie es bisher versucht hatten, eher unwahrscheinlich schien -, könnte es
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