Rabenzauber
Monate dauern, ehe sie fanden, was sie suchten, ja sogar Jahre.
Tier würde keine Jahre haben. Vielleicht nicht einmal Monate.
Sie achtete darauf, dass ihr Gesicht ausdruckslos blieb, als sie den anderen folgte und sich ein wenig verzweifelt daran erinnerte, dass Brewydd geglaubt hatte, etwas hier könnte ihnen helfen.
»Die Tür steht offen«, bestätigte Lehr, der die Spitze übernommen hatte. Er verschwand in dem Gebäude, bevor Seraph ihn bitten konnte, vorsichtig zu sein.
Sie stieg vom Pferd.
»Lasst die Pferde zurück«, schlug Tier vor, obwohl Lehr das bereits getan hatte. »Scheck, Seide und Klinge werden stehen bleiben, und die anderen werden sich nicht von ihnen trennen.«
Er bot Seraph die Hand und geleitete sie die Stufen hinauf und durch die Doppeltür. Trotz ihrer Sorgen beeilte sie sich, weil sie unbedingt eines dieser Häuser von innen sehen wollte.
Mosaikkacheln in lebhaften Farben bedeckten den Boden eines großen Innenraums. Weite Bogen schienen die Decke zu stützen. Von irgendwoher fiel Licht herein, und Seraph sah sich einen Moment um, bevor sie erkannte, wie es gemacht worden war: Glühsteine, hinter gelbem Glas verborgen, leuchteten so hell, als falle Sonnenlicht durch offene Fenster.
»Es ist ein Tempel«, sagte Tier, als sonst niemand Worte fand.
»Ich weiß nichts über die Götter von Colossae«, erwiderte Seraph. »Sie werden in keinem der Bücher der Mermori erwähnt.« Aber sie hatte auch nur die Mermori -Bücher gelesen, die von Magie handelten, und dort gab es nur wenig Einblick in das Leben der Zauberer, die sie verfasst hatten.
»Seht dort drüben.« Tier nickte zur gegenüberliegenden Seite des Raums, und Seraph folgte seinem Blick. Sie war zu fasziniert von Licht und Farben gewesen, um das Podium am anderen Ende des Tempels zu bemerken. Auf dem Podium stand eine Statue.
»Sie sieht aus, als atme sie«, sagte Phoran und sprang die Stufen des Podiums hinauf, bis er das Gewand der Göttin berühren konnte, die dort in Stein gemeißelt und dann mit so viel Detailtreue bemalt worden war, dass Seraph beinahe erwartete, der Stoff werde sich bewegen.
Phorans Kopf befand sich auf Kniehöhe der Göttin. Sie ragte über ihm auf, nackt von der Taille aufwärts. Ihr Rock, bunt bemalt mit einem geometrischen Muster in Grün und Gelb, wurde von einem Gürtel um ihre Hüfte gehalten. Die Gürtelschnalle hatte die Form einer Eule. In einer Hand hielt sie eine kleine Harfe, die andere war zum Raum hin ausgestreckt.
Ihr Haar, das beinahe die gleiche Farbe hatte wie Seraphs Haar, war kurz geschnitten und sah entweder zufällig oder nach der Absicht des Künstlers aus wie die Härchen an einer Feder. Aber es war ihr Gesicht, das Seraphs Aufmerksamkeit
anzog. Der Künstler hatte ihr ein jungenhaftes und so lebendiges Grinsen gegeben, dass Seraph gegen den Impuls ankämpfen musste, einfach zurückzugrinsen.
»Die Göttin der Musik«, sagte Hennea. »Kassiah die Eule.«
Seraph drehte sich um und sah den anderen Raben an, denn Hennea klang ein wenig angespannt. »Woher wusstest du das?«
»Es steht auf ihrem Gürtel.« Hennea wirkte vollkommen normal, und Seraph konnte an ihrer friedlichen Haltung nichts anderes ablesen.
»Ich habe mich immer gefragt, wieso die Bardenweisung durch eine Eule dargestellt wird und nicht durch einen Singvogel wie eine Lerche oder einen Kanarienvogel«, sagte Tier.
»Das hier erklärt es immer noch nicht«, bemerkte Lehr einen Augenblick später. »Ich meine, wieso hat sie eine Eule und keinen Singvogel?« Er fuhr mit dem Finger über den Stein des Rocks der Göttin. »Ich mag sie.«
»Sie ist tot«, sagte Hennea. »Es ist egal, ob du sie magst oder nicht.«
Tier sah sie stirnrunzelnd an. »Ich dachte, Reisende hätten keine Götter.«
»Das haben Reisende auch nicht«, sagte Seraph. »Aber es sieht so aus, als hätten die Zauberer von Colossae welche gehabt. Ich frage mich, warum sie sie zurückgelassen haben?«
»Tote Götter brauchen keine Anbeter«, sagte Hennea angespannt.
Seraph sah den anderen Raben forschend an, weil Hennea offensichtlich aufgebracht war - und sie war nicht die Einzige, die das bemerkte. Jes, der bisher im Raum herumgeschlendert war, drehte sich abrupt um und ging auf Hennea zu.
»Es ist vor langer Zeit geschehen«, sagte er. »Sei nicht zornig.«
Hennea schloss die Augen und holte tief Luft. Als sie sie wieder öffnete, hatte sie sich gefasst und ihre übliche gelassene
Haltung angenommen. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht,
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