Rabenzauber
wieso das hier mich so …« Ihre Stimme verklang, als ihr Blick dem von Tier begegnete. »Du hast recht, Jes. Es ist dumm, sich über etwas aufzuregen, was vor so langer Zeit geschehen ist. Lassen wir die Vergangenheit hinter uns, wo sie hingehört. Es ist einfach nur diese Stadt. Sie ist so leer.« Sie holte tief Luft. »Wir müssen die Bibliothek finden und sehen, was wir dort in Erfahrung bringen.«
Es gab keine anderen Geräusche als die, die sie selbst verursachten, und keinen der Düfte, die Seraph mit menschlicher Gegenwart verband: Bier, das gebraut wurde, backendes Brot, Weihrauch, gemischt mit weniger angenehmen Gerüchen wie Schweiß, Abflüssen und verfaulendem Essen. Man hätte nicht sagen können, dass es nach überhaupt nichts roch, aber die Düfte waren die falschen .
Die ehemaligen Einwohner von Colossae hatten sich nicht mit einer kleinen Serpentinenstraße den Steilhang hinauf abgegeben wie die Rederni. Stattdessen hatten sie eine riesige Rampe gebaut. Seraph warf einen Blick auf die sanfte Steigung und staunte schweigend über den Reichtum, der so etwas erlaubte.
Anfangs hatten alle sich gegenseitig auf die Wunder der Stadt aufmerksam gemacht, aber jetzt schwiegen sie. Nicht einmal die massive Rampe mit dem aufgerauten Pflaster, das Hufen guten Halt gab und sicher regelmäßig hatte erneuert werden müssen, veranlasste sie zu einer Bemerkung. Sie sind überwältigt, dachte Seraph.
Aber sie war nicht hier, um die Stadt zu besichtigen. Sie ließ den Blick zu Tier zurückschweifen, der sich gerade mit Phoran unterhielt. Sie würde sich von ihrem Glauben an Brewydds Weissagung leiten lassen und davon ausgehen, dass sie hier Antworten finden würden.
Die Häuser oben auf der Kuppe standen weiter voneinander entfernt als in den unteren Bereichen, und nach allem, was Seraph sehen konnte, gab es auch mehr von diesen seltsamen Lücken, wo Gebäude verfallen waren. Manchmal sah sie sogar zwei oder drei dieser leeren Stellen in einem einzigen Straßenblock.
Die Straße, der sie folgten, beschrieb eine plötzliche Kurve, ließ die Häuser hinter sich und führte sie in einen kunstvollen Garten voller blühender Pflanzen, die Seraph noch nie zuvor gesehen hatte.
»Ich frage mich, welche Jahreszeit wohl herrschte, als der Bann auf Colossae gelegt wurde.« Tier sah sich verträumt um, und Seraph konnte die Geschichte, die er sich in seinem Kopf zurechtlegte, schon beinahe hören. »Ich sehe nicht viele Blumen, die ich kenne. Das macht es schwer zu sagen, ob es Frühling oder Sommer war.«
»Das hier gefällt mir nicht«, sagte Jes. »Es ist wie Colbern.«
»Vom Schatten berührt?« Seraph richtete sich auf.
»Nein«, sagte Lehr. »Tot. Ich empfinde es ebenso.«
»Hier ist die Bibliothek.« Hennea drängte ihr Pferd zum Trab und ritt auf ein großes Gebäude mitten im Garten zu.
»Es sieht aus wie der Palast in Taela«, sagte Phoran zu Rinnie, als sie auf das Gebäude zuritten, wenn auch langsamer als die Eltern und Brüder des Mädchens, die Hennea sofort gefolgt waren. »Nur, dass der Palast beträchtlich größer ist.«
Toarsen, der diese Bemerkung gehört hatte, sah sich die Bibliothek noch einmal an. »Ja, sie ist kleiner«, stellte er dann fest. »Und es sieht aus, als hätte jemand dafür sorgen wollen, dass sie angenehm anzusehen ist. Aber ich verstehe, was Ihr meint. Auch dieses Gebäude hat relativ klein angefangen und ist immer weiter gewachsen.«
»Euer Palast ist größer als das hier?«, fragte Rinnie, und es
sah aus, als wäre ihre Ehrfurcht vor dem Kaiser zurückgekehrt. Das durfte Phoran nicht zulassen.
»Er ist blödsinnig groß«, gab er also zu. »Und hässlich. Und man kann ihn unmöglich reparieren. Im Speisesaal gibt es eine undichte Stelle an der Decke, die seit drei Generationen besteht. Niemand kann herausfinden, woher das Wasser kommt.«
»Ich nehme an, wir werden es eines Tages feststellen, wenn das ganze Gebäude in sich zusammenfällt«, sagte Kissel vergnügt. »Hoffentlich sitzt dann der Sept von Gorrish genau unter einem angemessen schweren Deckenteil und wird zu Matsch zerdrückt.«
Toarsen räusperte sich und wies mit dem Kinn bedeutungsschwer auf Rinnie.
»Äh, tut mir leid, Mädchen.« Kissel zog den Kopf mit einer Verlegenheit ein, die echt sein mochte oder auch nicht.
»Schon gut.« Rinnie sprang vom Pferd und grinste Kissel boshaft an. »Ich bin sicher, jeder, den Ihr zu Matsch zerdrückt sehen wollt, hat das verdient.«
Sie banden die Pferde
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