Rabenzauber
während Tiers Musik sie vor allem schützte.
Phoran war wohl nicht allzu lange nach Seraph eingeschlafen. Er erwachte vom Geruch von etwas Wildem und Süßem, und als er die Augen öffnete, sah er Seraphs Haar und erkannte, dass das leise Trommeln, das er hörte, ihr Herzschlag war. Rasch richtete er sich auf und sah sich um, ob jemand es bemerkt hatte.
Nicht, dass es für ihn ein so einzigartiges Erlebnis gewesen wäre, neben der Frau eines anderen aufzuwachen, aber das hier hatte einen viel unschuldigeren Hintergrund. Dennoch, ihr Mann und ihre Kinder befanden sich im selben Raum.
Jes, ein menschlicher Jes, hatte sich neben Hennea ausgestreckt und lächelte ihn nun freundlich an. Er legte den Finger an die Lippen. Er war der Einzige außer Phoran, der wach war.
»Bist du die ganze Nacht wach geblieben?«, fragte der Kaiser in einem beinahe lautlosen Flüstern.
Jes nickte, aber er sah nicht müde aus. Phoran bewegte sich ein wenig, verlagerte das Gewicht und konnte sich schließlich vollkommen von Seraph lösen. Er stand auf und dehnte die meisten verspannten Stellen an seinem Rücken.
Tier lag auf dem Tisch und schlief, die Laute auf dem Bauch. Phoran lächelte, dann wurde ihm klar, dass einige aus seiner Gruppe fehlten. Er erinnerte sich, dass das Memento bald nach Tiers unglaublichem Lied über den Schatten verschwunden war. Ielian und Lehr waren offenbar schon wach, und Hinnum, dachte er, ging ihn nichts an.
Er winkte Jes zu und ging nach draußen. Dem Winkel der Sonne entnahm er, dass es erst Vormittag war. Wer hätte das gedacht - wir haben die Nacht überlebt.
»Guten Morgen«, sagte Lehr, der sich neben der aufgebrochenen Tür an die Wand der Bibliothek lehnte. »Ich hörte, wie Ielian aufstand, aber bis ich mich zwingen konnte, mich zu bewegen, war er schon weg.«
Phoran nickte. »Wahrscheinlich ist er ins Lager zurückgekehrt. Es wird ihm peinlich sein, dass er der Einzige war, der davonlaufen wollte.«
»Außer dem Hund«, sagte Lehr.
Phoran grinste. »Dieser alberne Hund wollte nicht weglaufen, er wollte angreifen!«
Die anderen rührten sich nicht lange danach. Als alle wach waren, weckte Jes auch seine Eltern, und sie kehrten gemeinsam ins Lager zurück.
In der Nacht war es Phoran nicht weiter aufgefallen, aber im hellen Tageslicht wirkten beide Raben erschöpft, und Tier sah nicht viel besser aus. Seraph bemerkte seinen besorgten Blick und lächelte ihn an.
»Schon gut. Nur zu viel Magie und nicht genug Schlaf.«
»Wir sind erst zwei Tage hier, und wir haben schon beinahe alles gefunden, weshalb wir hergekommen sind«, sagte er. »Ich habe wirklich nicht geglaubt, dass wir außer dem Schlachtfeld etwas finden würden. Nicht Colossae, nicht Hinnum, nicht die Identität des Schattens.«
Sie lächelte, und ihr Gesicht leuchtete plötzlich - er hatte sie nie so lächeln sehen. Einen Augenblick war sie wunderschön.
»Um ehrlich zu sein, Phoran«, sagte sie, »es gab Zeiten, da habe ich das auch nicht geglaubt.«
»Danke, dass Ihr mit Mutter gesprochen habt, Phoran«, sagte Rinnie, eine Hand auf Guras Rücken, die andere in der Hand des jungen Kaisers.
»Jederzeit«, sagte er.
Sie hatten das Lager ein wenig früher verlassen, als Seraphs Plan vorsah, aber Hennea war nach dem Frühstück zu Phoran gekommen und hatte gefragt, ob er etwas dagegen hätte, früher zu gehen.
»Tier, Seraph und Jes brauchen mehr Schlaf«, sagte sie. »Und den werden sie nicht bekommen, wenn wir anderen wach und in der Nähe sind.«
Also rief er alle zusammen, Rinnie und Gura eingeschlossen, und sie machten sich auf zum Tempel der Eulengöttin. Ielian, der tatsächlich im Lager gewesen war, als sie aus der Bibliothek gekommen waren, hatte die Verlegenheit oder den Zorn, die er wegen seines Verhaltens in der vergangenen Nacht verspürt haben mochte, offenbar abgelegt. Er schlug vor, sie sollten Mittagessen einpacken und sich ein wenig umsehen, da sie offenbar Zeit dafür haben würden.
Lehr hatte sich den Stadtplan bereits genau eingeprägt, und Phoran dachte sich, falls sie alle überlebten - und im Augenblick sah es durchaus danach aus -, würde er Tiers jüngeren
Sohn bitten, einen Plan des Palasts in Taela anzufertigen. Vielleicht würde Lehr ja den Weg zum Südwestturm finden, in dem seit dreißig Jahren niemand mehr gewesen war, weil keiner wusste, wie man dorthin gelangen konnte.
Da sie alle den Vortag damit verbracht hatten, sich das Universitätsviertel anzusehen, gingen sie diesmal
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