Rabenzauber
wie sie sich ernährte, verlangte, dass das Opfer zu ihr kam. Nach dem wenigen, was Seraph über solche Dinge wusste, hätte beides zutreffen können.
Seraph ließ die Hand in Kissels Ellbogenbeuge gleiten. »Es ist wie ein Gemälde«, sagte sie leise. »Es macht Euch traurig, rührt Euch, aber Ihr könnt nichts tun, um es zu ändern. Die Frau, die da weint, ist vor langer Zeit gestorben. Es gibt nichts, was Ihr für sie tun könnt.«
»Sie wird für immer weinen, wenn ihr niemand hilft«, erwiderte er, aber er klang nun wacher und mehr wie er selbst.
»Niemand kann ihr helfen, Kissel«, sagte Seraph und zupfte ein wenig an seinem Ärmel. »Kommt, setzt Euch hin.«
Er drehte sich um und schlurfte zurück zu seinem Platz. Seraph blieb an seiner Seite, und Jes war hinter ihnen, um sie zu bewachen.
»Sie war so schön«, flüsterte Kissel, als er sich hinsetzte. »So traurig.«
»Ich weiß«, sagte Jes.
Toarsen legte einen Arm um Kissel und zog ihn kurz an sich. Er nickte Seraph zu - sei es, um ihr zu danken oder ihr zu versichern, dass er ab jetzt auf Kissel aufpassen würde, oder beides.
Sie gab die magische Sichtweise mit einem erleichterten Seufzen auf; auf diese Art hinzuschauen hatte ihr heftige Kopfschmerzen bereitet. Sie warf einen Blick zu Jes. »Hast du sie gesehen?«
Er nickte, rollte sich neben Hennea zusammen und legte die Schnauze auf ihr Knie. »Sie war wunderschön.«
Seraph beugte sich vor, kraulte ihn hinter den Ohren und nahm sich Zeit, die anderen nacheinander anzusehen. Sie wirkten alle ein wenig erschüttert, aber Tiers Trinklied - ein albernes, ein wenig gewagtes Stück - half. Lehr und Phoran
sangen mit, und nach ein paar Strophen schloss sich auch Toarsen an.
Seraph kehrte zurück zu Tiers Tisch. Sie berührte Ielian und dann Phoran an der Schulter, als sie an ihnen vorbeikam, denn sie sahen beide aus, als könnten sie es brauchen. Dann setzte sie sich auf ihre Bank, lehnte die Wange gegen Tiers Knie und ließ die Melodie, die seine Finger der zerschlagenen alten Laute entlockten, in sich einsinken wie das Wissen, dass alle in Sicherheit waren. Tier war in Sicherheit.
Sie hatte jetzt eine ziemlich gute Vorstellung, wie die Weisungen, die an die Edelsteine des Pfads gebunden waren, gereinigt werden konnten, sodass sie und Hennea schließlich imstande sein würden, sie wieder freizusetzen. Sie wussten, wer der Schatten war - und dass er in Redern auf sie wartete. Hinnum und Hennea waren bei all ihren Auseinandersetzungen ziemlich sicher, dass ihnen eine Möglichkeit einfallen würde, den Schatten zu vernichten, damit Phoran frei von seinem Memento wäre. Sie mussten dazu eine Lerche finden, aber Hennea kannte einen jungen Mann, der ihnen helfen könnte, obwohl sie ein paar Monate brauchen würde, um zu ihm zu gelangen.
»Seraph«, sagte Tier, während seine geschickten Finger das Lied beendeten, das er gespielt hatte, und mit seinen Pausenakkorden begannen.
»Ich fühle mich besser. Bitte sag mir, dass es dir gelungen ist, etwas mehr gegen den Bann des Schattens zu tun.«
Sie lächelte ihn an. »Raben sind arrogant«, erwiderte sie. »Wenn es ein Problem gibt, glauben wir gerne, dass wir die Einzigen sind, die es lösen können.« Sie öffnete die Hand, in der die Überreste des Granats lagen. »Aber du hast den Bann selbst gebrochen, als du die Geschichte vom Fall des namenlosen Königs erzählt hast.«
»Ha.« Er zog überrascht die Brauen hoch. »Dennoch, ich bleibe lieber für den Rest der Nacht bei ganz banaler Musik.«
Er wählte als Nächstes eine Ballade; sie war von einem jungen Mann für seine Liebste geschrieben worden, die einen anderen heiraten sollte. Das Lied passte zu seiner Stimme, und es war beruhigend, also ein gutes Mittel gegen die Angst, die all die Toten immer noch erweckten.
Seraph rutschte von der Bank und ging zu Rinnie. Auf dem Weg dorthin warf sie dem Memento einen Blick zu, aber ohne den Zauber, der sie Geist und andere Dinge sehen ließ, wirkte das Wesen ebenso wie in dem Augenblick, als es in die Bibliothek gekommen war.
Rinnie hatte sich neben Gura zusammengerollt und schlief. Der Hund beobachtete immer noch die Toten, die Seraph nun nicht mehr sehen konnte, aber er wirkte nicht mehr aufgeregt, nur noch wachsam. Seine aufmerksame Pose wurde von dem Wolf gespiegelt, der sich neben Hennea niedergelassen hatte. Seraph gähnte und legte sich neben Rinnie auf den Boden, fand etwas Weiches und Warmes, um den Kopf daraufzulegen, und schloss die Augen,
Weitere Kostenlose Bücher