Rabenzauber
dir warm werden, aber du wirst immer noch erfrieren.«
»Wie lange ist es her, dass die Stadt starb?«, fragte Jes und berührte einen geschnitzten Tisch.
Einen Augenblick gestattete Seraph sich, das Haus zu sehen, als wäre es das erste Mal, und erkannte, wie fremd es ihm vorkommen musste. Im Haus eines Adligen gab es vielleicht mehrere Holztische und Regale, die poliert waren wie die Oberfläche eines unbewegten Sees, aber kein Haus in Redern hatte solche Schätze.
»Ich bin nicht sicher«, erwiderte sie. »Es war lange, bevor der Schatten zu herrschen begann, und das geschah vor etwa sechshundert Jahren, wenn die Geschichten, die ihm eine hundertjährige Herrschaft zuschreiben, recht haben. Colossae
war eine Stadt mit über einer Million Einwohnern, dreimal so groß wie Taela, und nur die Reisenden erinnern sich an ihren Namen.«
»Wo liegt es?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Seraph. »Und das ist auch unwichtig. Die Stadt ist gegen Eindringlinge geschützt.«
»Ist?«
»Soweit ich weiß, gibt es sie immer noch - wenn nicht, wäre der Pirschgänger frei. Die Menschen sind gestorben, ebenso wie die weniger fassbaren Dinge, die eine Gemeinschaft bilden, und die Gebeine der Stadt verschließen das Gefängnis des Pirschgängers.«
Jes, der sich das Gemälde einer Waldszene angesehen hatte, drehte sich wieder um. »Wenn das hier alles Illusion ist, warum waren die alten Zauberer dann wegen der Mermori so besorgt?«
Seraph lächelte und ging durch eine schmale Tür. Der Raum dahinter war doppelt so groß wie der erste, und an den Wänden befanden sich unzählige Bücherregale.
»Das hier ist, was sie retten wollten - in diesen Häusern befindet sich alles, was sie über Magie wussten. Aber viele Sprachen, in denen die Bücher verfasst wurden, sind heute unbekannt. Ich kenne nur vier oder fünf. Mein Vater kannte mehr - und ich fürchte, sie verschwanden mit ihm und mit den anderen, die tot sind, denn ich verfüge nun über mehr als die Hälfte der Mermori , die jemals hergestellt wurden.«
4
» G eht und fangt ein paar Fische zum Abendessen, ihr beiden.« Seraph machte eine scheuchende Geste zu Lehr und Rinnie. »Ich kümmere mich ums Frühstücksgeschirr und bereite das Zaumzeug zum Pflügen vor. In den nächsten Wochen wird es für uns alle viel Arbeit geben, und wir haben nur noch ein wenig Salzfleisch übrig. Ich hätte wirklich nichts gegen eine Forelle. Packt euch etwas zum Mittagessen ein und fangt, was ihr könnt.«
»Was ist mit dem Eintopf, den wir gestern aus Jes’ Hasen gemacht haben, Mutter?«, fragte Lehr. »Davon sollte doch noch genug übrig sein. Du wirst nicht den ganzen Tag brauchen, um das Zaumzeug zu überprüfen; wir sollten so bald wie möglich anfangen zu pflügen.«
»Morgen ist früh genug«, erwiderte Seraph entschlossen. »Gura hat heute früh den letzten Rest des Eintopfs gefressen« - oder er würde es tun, sobald sie ihn damit fütterte.
»Papa würde dich nie ohne Schutz zurücklassen«, sagte Lehr, hin und her gerissen zwischen Pflicht und Vergnügen.
Rinnie zupfte an seinem Ärmel. »Ich denke, Gura ist abschreckend genug - du weißt doch, wie er sich gegenüber Fremden verhält. Und wie oft kommen schon Leute hierher?«
Lehr biss die Zähne zusammen. »Ich habe Jes heute früh noch nicht gesehen«, sagte er.
»Er hat die Nacht im Wald verbracht«, erwiderte Seraph.
»Ich nehme an, er wird heute Abend zurückkommen. Wenn ihr ihn seht, sagt ihm, dass ich Brot backe.«
»Dann kommt er bestimmt«, meinte Rinnie. Sie packte bereits Käse und Fladenbrot in ein Tuch und band es zusammen. »Komm schon, Lehr. Wenn wir nicht bald gehen, werden die Fische nicht mehr beißen.«
Er gab nach. Rasch drückte er Seraph einen Kuss auf die Stirn, nahm den Arm seiner Schwester und ging mit ihr zur Scheune, wo sie die Angelausrüstungen aufbewahrten.
Seraph sah ihnen lächelnd hinterher und drehte sich dann wieder um, um das Frühstücksgeschirr zu spülen und danach den Brotteig zu mischen.
»Gehen wir denn nicht zum Fluss?« Rinnie raffte die Röcke, um den Hang hinauf mit Lehr Schritt halten zu können. Er nahm sie nicht oft zu Angelausflügen mit. Für gewöhnlich ging Lehr alleine und manchmal in Begleitung von Jes. Wenn Rinnie angeln wollte, musste sie es meist mit ihren Eltern tun.
»Nicht gleich. Ich dachte, wir versuchen erst den Bach. Jes hat mir einen guten Platz gezeigt, an dem die Forellen sich gerne sonnen. Ich habe ihn noch nicht ausprobiert, aber
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