Rabenzauber
die Leiche eines Pferds barg - eine graue Stute, die einmal auf euren Feldern weidete.«
»Du weißt, wo mein Vater getötet wurde?«, fragte der Hüter langsam.
»Dein Vater ist tot?« Der Eber dachte kurz nach. »Ich sage dir, was ich gesehen habe, und dann ist es deine Sache herauszufinden, was du daraus machst. Aber erst musst du mit dem Kind fertig werden - oder mir gestatten, es zu tun.«
Der Hüter wusste, wie der Eber mit jemandem umgehen würde, den er als Gefahr betrachtete. Er war sich bewusst, dass der gleiche grimmige Geist auch in ihm existierte - obwohl er niemals jemanden töten würde. Er wollte niemals jemanden töten müssen, denn er hatte Angst, dass er durch eine solche Tat - etwas, was der Tageslicht-Jes nicht begreifen könnte - die Bindungen durchtrennen würde, die diese beiden unterschiedlichen Teile seiner selbst zusammenhielten.
»Was hast du am Grab meines Vaters gefunden?«, fragte der Hüter. »Meine Mutter glaubt, dass mehr an seinem Tod war, als man uns mitgeteilt hat.«
»Deine Mutter könnte recht haben«, sagte der Waldkönig. »Aber es steht mir nicht zu, das zu beurteilen.«
Inzwischen war der Hüter ziemlich sicher, dass er wusste, wohin der König ihn brachte. Es gab tatsächlich nicht so viele Orte, wo man jemanden im Wald festhalten konnte, ohne sich sorgen zu müssen, was dieser Person zustoßen könnte - selbst wenn man ein so mächtiger Geist war wie der Waldkönig.
Das alte Gebäude war so von Ranken überwachsen und von Bäumen umgeben, dass man es unmöglich entdecken konnte, wenn man nicht schon vorher von seiner Existenz wusste. Es war wohl das einzige Gebäude, das er je gesehen hatte, das vor der Herrschaft des Schattens errichtet worden war. Wenn man größer als ein Eber war, konnte man es nur nach einigem würdelosen Klettern und Kriechen betreten.
Der Hüter wusste nicht genau, worauf er stoßen würde, also entschied er sich, die Menschengestalt beizubehalten, und kroch unter dem Grün hindurch in einen einstürzenden Tunnel, der einmal Wasser enthalten hatte und immer noch Spuren uralter Algen zeigte.
Im Haus wartete der Eber mit leuchtenden roten Augen, die in der Dunkelheit funkelten, direkt vor einer schlafenden Gestalt, die ganz bestimmt kein Kind war. Ihr helles Reisendenhaar sah in dem schwachen Licht, das durch die Blätter über den schon lange kahlen Balken fiel, eher silbern als aschblond aus.
»Eine Reisende«, sagte der Hüter, hockte sich neben sie und schob ihr Haar beiseite, um sich zu überzeugen, dass es nicht seine Mutter war, die dort lag. Aber die Züge der Frau, die im Bau des Waldkönigs schlief, waren die einer Fremden, jünger als seine Mutter - doch wie der Eber gesagt hatte, älter als Jes. »Du sagst, sie kam aus dem Dorf?«
»Ja. Sie kam aus dem Dorf und ging beinahe direkt zu der Stelle, wo das tote Pferd lag, und dann weiter.« Er hielt inne. »Sie war nicht auf dem Rückweg ins Dorf.«
»Wohin wollte sie denn?«, fragte der Hüter.
Der Eber starrte die schlafende Frau an. »Es kam mir so vor, als habe sie den direktesten Weg zu eurem Haus eingeschlagen. Aber sie hat dunkle Magie an sich, und Macht. Ihr Weg hätte sie durch das Herz meines Landes geführt, und ich
hielt es für besser, dafür zu sorgen, dass sie das nicht unbewacht täte.«
Der Hüter betrachtete die Frau. Kannte seine Mutter diese Person? Als Seraph vorgestern aus dem Dorf zurückgekommen war, hatte sie nichts von einer anderen Reisenden erwähnt, und darüber hätte sie doch sicher gesprochen.
»Würdest du sie bitte wecken?«, meinte der Hüter schließlich, als er zu dem Schluss gekommen war, dass die Frau die Fragen am besten selbst beantworten sollte. »Oder willst du, dass ich sie erst hier wegbringe?«
»Bring sie weg.« Der Waldkönig wandte sich wieder dem Eingang zu. »Wenn ihr weit genug von hier entfernt seid, werde ich sie wecken.«
Der Hüter seufzte. Die Frau mochte schlank sein, aber der Tunnel, der aus dem Haus führte, war sehr eng. Dennoch, er hob sie hoch und schaffte es, sie mit nur ein paar blauen Flecken - an ihm - nach draußen zu bringen. Es gelang ihm, sie vor allem Schaden zu schützen.
Im Sonnenlicht konnte er besser sehen, welche Züge sie mit seiner Mutter gemein hatte und was sie von ihr unterschied. Seine Mutter war kleiner, und diese Frau hatte eine dünnere, längere Nase, die ihrem Gesicht eine arrogante Schönheit verlieh.
Er hatte außerhalb seiner Familie noch nie jemanden von Reisendenblut gesehen. Er
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