Rabenzauber
so lange.«
Als das Ding den Raum betrat, machte Tier einen Schritt zurück, so überwältigend war die Präsenz dieses Wesens. Dann setzte er sich wieder aufs Bett und versuchte, friedlich auszusehen.
»Es tut mir leid«, entschuldigte sich der Junge.
Mit einiger Anstrengung konzentrierte Tier sich wieder auf ihn und bemerkte zum ersten Mal die Qualität seiner Kleidung. Sein Gewand bestand aus Samt und war mit schweren Metallfäden bestickt, die aussahen, als bestünden sie wirklich aus Gold.
»Äh«, sagte der Junge wieder, »ich weiß nicht, wieso Ihr hier seid. Das hier sind nicht die üblichen Gefängniszellen. Aber aus irgendeinem Grund« - er stieß ein seltsames kurzes Lachen aus - »denke ich, Ihr könntet mir helfen, etwas zu begreifen.«
Und der Junge hielt Tier ein Stück Pergament hin, das er in der Hand gehabt hatte. Er setzte sich neben ihn aufs Bett, fing an, auf etwas zu zeigen, und hielt dann wieder inne.
»Könnt Ihr lesen?«, fragte er. »Nichts für ungut, aber Ihr seid gekleidet wie …«
»Ich kann die Allgemeine Sprache lesen«, sagte Tier. Er hatte beim Sept von Gerant viel gelernt und war dadurch zu einem von einer Handvoll Rederni geworden, die lesen konnten.
Da das Memento, was immer es sein mochte, Abstand hielt, nahm Tier sich die Zeit, näher anzusehen, was auf dem Pergament stand.
»Es geht um Folgendes«, sagte der Junge und klang nun ein wenig befehlsgewohnter. »Das hier sieht nach außen aus wie eine einfache Belohnung für gute Arbeit. Nur, dass für gewöhnlich Eigentum, das einem Sept gehört, nicht einfach an einen anderen verschenkt wird, und schon gar nicht mit einer so vagen Begründung wie ›für Dienste am Kaiserreich‹. Versteht Ihr?«
Tier starrte ungläubig an, was er in der Hand hielt. Es schien sich um den Entwurf eines Dekrets zu handeln.
Zuerst hatte er angenommen, der Junge sei einer von Telleridges Zauberern, besonders wegen des Etwas, das ihm folgte. Dann war er beinahe sicher gewesen, er sei einer der Sperlinge, von denen Myrceria gesprochen hatte. Aber nun …
Er räusperte sich. »Seid Ihr ein Mitglied des Geheimen Pfads?«
»Wenn ich das nicht bin, könnt Ihr mir dann die Antwort nicht verraten?«
Diese arglistige Antwort ließ Tier trotz seiner schlechten Laune lachen. Der junge Mann bedachte ihn mit einem erfreuten Lächeln.
»Ich habe noch nie vom Geheimen Pfad gehört. Obwohl es wahrscheinlich genügt, dass mehr als zwei Adlige zusammentreffen, damit sie mindestens vier Geheimgesellschaften gründen.«
Tier nickte bedächtig. »Man hat mir den Eindruck vermittelt, dass die Angehörigen des Pfads diesen Teil des Palasts übernommen und ihn sich zu eigen gemacht haben. Wenn Ihr nicht zu ihnen gehört, wie habt Ihr dann hierhergefunden?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Der Palast hat genug Räume, um die ganze Stadt und noch eine halbe andere unterzubringen. Die ersten fünfzehn Phorans haben ihre gesamte Zeit damit verbracht, den Palast aufzubauen, die nächsten zehn waren damit beschäftigt herauszufinden, was sie mit all dem Platz machen sollten - und haben die Räume überwiegend wieder abschließen lassen. Zumindest zwei von ihnen - der Achte und der Vierzehnte - oder der Siebte und der Dreizehnte, wenn Ihr dem ersten Phoran lieber keine Nummer geben wollt - waren fasziniert von geheimen Räumen und Geheimgängen. Ich hatte das Glück, zufällig die Pläne des Achten zu finden, und habe dann nach denen des Vierzehnten gesucht. Sobald ich sie fand, habe ich sie selbst versteckt. Ich erlangte dadurch Zugang zum größten Teil des Palasts. Nicht, dass es hier gewöhnlich viel zu sehen gäbe.«
»Aha«, sagte Tier, ein wenig verwirrt von dem Achten, der vielleicht der Siebte gewesen war - das klang nach Stoff für ein Lied. Er hatte noch nicht weiter darüber nachgedacht, wie es dem Pfad gelungen sein konnte, einen so großen Teil eines Gebäudes für sich zu beanspruchen, ohne dass andere es
merkten. Es fiel ihm schwer, sich einen so großen Palast vorzustellen, in dem der Pfad seit Generationen einen bestimmten Bereich nutzen konnte, ohne dass es jemand merkte.
»Ich bin kein Gesetzeskundiger«, sagte Tier schließlich. »Und ich weiß auch nichts über die Septs, also glaube ich nicht, dass ich Euch helfen kann.«
Der Junge runzelte die Stirn. »Ich wollte wissen, ob es jemanden gibt, der mir helfen kann, mehr über das fragliche Stück Land herauszufinden. Gibt es einen Grund, wieso Ihr etwas über die Ländereien des Sept von
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