'Rache'-Box: Rachezug, Rachegier und Rachetrieb (German Edition)
Kommissar in der Hand hielt, verschlug es ihnen abermals den Atem. Diesmal noch heftiger als zuvor.
„Nimmt das Grauen denn überhaupt kein Ende?“, fragte Nora heiser und wandte sich ab.
„Ich nehme an, dass sie dem ersten Opfer gehören“, mutmaßte Contento.
Tommy stimmte ihm zu, während er fassungslos auf die abgetrennten Ohren im Beutel sah.
12
Depression.
Das war Noras erste Empfindung, als sie am Samstag gegen 15 Uhr die weißen Kacheln des Autopsiesaals betrachtete. In der Mitte des kleinen Raumes standen zwei Seziertische. Auf beängstigende Weise spiegelten sie die Trauer und Perspektivlosigkeit wider, die Nora jedes Mal verspürte, wenn sie diesen Saal betrat. Der erste Tisch wurde von einem grünen Laken bedeckt, unter dem sich die Umrisse des unbekannten Mädchens aus dem Göttinger Wald abzeichneten. Daneben erblickte die Kommissarin zwei Rolltische, auf denen die Instrumente des Gerichtsmediziners in einer Reihe lagen. Der Anblick des kalten Metalls trug maßgeblich dazu bei, dass Nora sich in einer fremden, gefühllosen Welt gefangen fühlte. In dem Wissen, wozu Professor Horn die Instrumente verwendete, schauderte sie vor Unbehagen.
Als sie einen Schritt auf den ersten Seziertisch zuging, stieg ihr der beißende Geruch frischen Desinfektionsmittels in die Nase. Mühelos kroch er in die letzten Winkel ihrer Innereien und ließ sie vor Befangenheit zaudern. Sie hielt die Luft an und fragte sich unwillkürlich: Wie kann jemand nur an diesem trostlosen Ort arbeiten?
Wie aufs Stichwort betrat der Professor den Raum durch eine Seitentür. Er trug einen grünen Kittel, zwei Latexhandschuhe und einen Mundschutz, den er soeben abnahm und auf den Instrumentenwagen warf. „Ah, da sind Sie ja. Auf Frederiks Wunsch hin habe ich diesem Fall höchste Priorität zugeschrieben und im Akkord die ersten Untersuchungen durchgeführt.“
„Wir wissen das zu schätzen.“
„Das will ich auch hoffen“, erwiderte Horn augenzwinkernd. „Aber wo ist denn eigentlich Scarface? Traut er sich etwa nicht ins Reich der Toten?“
„Er erledigt formale Angelegenheiten im Büro.“
Horn nickte leicht, ehe er auf seine Ergebnisse zu sprechen kam: „Die Auswertung der Röntgenbilder hat ergeben, dass das Opfer fünfzehn, möglicherweise sechzehn Jahre jung war. Todesursache war ein kräftiger Schlag mit einem stumpfen Gegenstand, der dem Mädchen an der Schläfe zugefügt wurde.“ Er zog das Laken soweit zurück, dass der Kopf der Fremden vollständig frei lag. Dann deutete er auf die großflächige, gewaschene Wunde an dessen rechter Stirnseite.
Nora betrachtete die Stelle und nickte. „Ich verstehe.“
Daraufhin wies Horn sie an, ihm zu den Leuchtkästen zu folgen, die an der Wand hinter ihm befestigt waren. An diesen angelangt, deutete er auf das erste Röntgenbild, das eine Großaufnahme des Schädels des Opfers zeigte. „Hier erkennen Sie den Bruch des Schläfenbeins, den der tödliche Schlag angerichtet hat. Zweifellos starb das Mädchen unmittelbar nach dem Schlag. Natürlich sind noch diverse andere Knochen wie zum Beispiel der Kiefer- und der rechte Wangenknochen gebrochen. Das geschah allerdings erst nach dem fatalen Schlag gegen die Schläfe.“
Nora betrachtete die Brüche mit schierer Fassungslosigkeit. Was geht nur in dem Mörder vor? Wie viel Hass und Wut muss er in sich tragen, um einen Menschen so brutal zu erschlagen?
Nach wenigen Augenblicken nickte sie Horn zu, um ihm zu signalisieren, dass sie genug gesehen hatte. Der Professor verstand die Geste, machte sogleich wieder kehrt und schritt zur Leiche zurück. Nora folgte ihm trübselig.
„Das Mädchen wurde ebenfalls sehr stark drangsaliert, wie sich an dem Würgemal am Hals erkennen lässt. Allerdings reichte das nicht aus, um das Mädchen zu töten. Weder der Kehlkopf noch die Luftröhre wurden in ihren natürlichen Funktionen so stark beeinträchtigt, dass es zum Erstickungstod hätte führen können.“
„Was ist mit den ausgeschnittenen Augen?“
„Die Wundränder deuten darauf hin, dass sie mit einer extrem scharfen Klinge aus den Höhlen entfernt wurden – ähnlich wie die Ohren des ersten Opfers. Und auch diesmal hat der Täter wieder neu angesetzt. Aller Wahrscheinlichkeit nach verfügt er nicht über chirurgische Erfahrungen.“ Horn hielt kurz inne, wobei er mit den Händen über seinen Kittel strich. Dann fuhr er fort: „Der Abdruck des Würgemals am Hals stammt zweifelsohne von einem Rechtshänder. Wie Sie sehen,
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