'Rache'-Box: Rachezug, Rachegier und Rachetrieb (German Edition)
noch?
Liebend gerne wäre Julia losgerannt. Aber ihre Beine gehorchten ihrer rationalen Stimme und bewegten sich mit unbestechlicher Disziplin. Sie nahm eine Stufe nach der anderen, fühlte sich der Freiheit mit jedem gewonnen Meter ein Stück näher.
Als sie den Treppenabsatz erreichte, wurden ihre Gedanken schlagartig durch Schritte gestört, die in einiger Entfernung zu hören waren. Julia horchte auf. Dieselben männlichen Schritte hatte sie auch schon vernommen, als sie vorhin in dem kleinen Raum auf der Matratze gelegen hatte.
Was hat das zu bedeuten? Welches kranke Spiel treibt der Irre mit mir?
Aus heiterem Himmel ertönte ein schiefes, männliches Pfeifen. War es dieser Wahnsinnige? Pfiff er das Lied des Triumphes? Das Lied des Todes? Julias Schädel hämmerte wie wild. Das Pfeifen schien aus einer der unteren Etagen zu kommen und sich permanent zu nähern. Bestenfalls noch dreißig Sekunden, dann stünde der Mörder direkt vor ihr.
Mach schon, los! Beweg dich, Mädchen!
Sie wollte über den Rand nach unten schauen, um ihren Peiniger zu identifizieren. Aber konnte sie sich dieses Vorhaben leisten?
Noch ehe sie eine Entscheidung treffen konnte, verstummte das Pfeifen. Eine universelle Stille legte sich über das Gebäude. Wo war der Kerl hin? Hatte er einen anderen Weg eingeschlagen? Kam er gleich womöglich hinter Julia aus einem versteckten Winkel hervor? Die Schülerin riss ihren Kopf herum und musterte die nackten Wände. Zu ihrer Beruhigung sah alles völlig normal aus. Jedoch wäre ihr weitaus wohler gewesen, wenn sie wieder ein Geräusch von ihm vernommen hätte, um zu wissen, wo er sich aufhielt.
Stattdessen plagte sie nun quälende Ungewissheit.
„Wir haben routinemäßig einige Proben von der Erde genommen, auf der Stefan Peters im Göttinger Wald lag“, erklärte Professor Horn. „Dabei stellte sich heraus, dass diese Erde nicht mit der Erde übereinstimmt, die sich in den Haaren und unter den Fingernägeln des Studenten festgesetzt hatte.“
„Das verstehe ich nicht“, sagte Tommy. „Wie kann das sein? Was bedeutet das?“
„Das bedeutet, dass der Student aus einem unerfindlichen Grund Erdereste an seinem Körper hat, die er dort nicht haben dürfte. Unter Umständen wurde er bereits irgendwo anders vergraben, ehe der Mörder ihn an diesem Ort wieder ausbuddelte und anschließend im Göttinger Wald ablegte. Aber da ich in einer solchen Handlung keinen Sinn sehe, bleibt diese Theorie reine Spekulation.“ Weil Tommy aufgrund seiner Verwirrung nichts erwiderte, fuhr Horn fort: „Des Weiteren konnte ich feststellen, dass sein Schädel mit einem stumpfen Gegenstand eingeschlagen wurde. Er wurde weder gewürgt noch gefoltert. Es gibt keine Anzeichen sexueller Gewalt. In seinem Körper befanden sich auch keine Giftstoffe.“
„Konnten Sie Fingerabdrücke oder Faserreste am Leichnam sicherstellen?“
„Leider nicht.“
„Wie sieht es mit dem Todeszeitpunkt aus?“
„Den genauen Zeitpunkt kann ich nicht bestimmen. Das liegt daran, dass der Student schon längere Zeit tot ist. Zwischen vier und sechs Tagen.“
Tommy horchte auf. „Sind Sie sich dessen absolut sicher?“
„Vollkommen“, lautete die prägnante Antwort des Gerichtsmediziners, der sich soeben etwas Essbares in den Mund schob.
„Okay, vielen Dank, Herr Professor.“
„Kein Problem. Ich hoffe, Sie finden dieses miese Schwein bald“, nuschelte Horn mit vollem Mund.
„Das hoffe ich auch“, erwiderte Tommy, bevor er das Gespräch mit einem mechanischen Abschiedsgruß beendete und den Hörer wieder auflegte.
Das hoffe ich auch , wiederholte er mehrmals in Gedanken. Aber ich befürchte leider das Schlimmste.
„Was gibt es?“, wollte Nora von ihm wissen. „Was konnte Horn herausfinden?“
„Stefan Peters wurde vor mindestens vier Tagen ermordet.“
„Irrtum ausgeschlossen?“
„Ja.“
„Dann wissen wir jetzt immerhin, dass der Täter ihn ermordet hat, lange Zeit bevor er ihn im Göttinger Wald ablegte.“
„Ja, aber wieso hat er das gemacht? Das ergibt doch keinen Sinn. Damit schneidet der Kerl sich doch ins eigene Fleisch. Schließlich können wir Stefan als Einzeltäter nun ausschließen. Denn sollte er Gabriella wirklich ermordet haben und dann von einer unbekannten Person ebenfalls getötet worden sein, warum hätte dieser Fremde die Leiche des Studenten uns dann jetzt präsentieren und somit beweisen sollen, dass es noch einen zweiten Täter gibt? Er hätte Stefan irgendwo verbuddeln
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