Rache
Küchenboden fühlten sich unter ihren nackten Füßen glatt und ziemlich rutschig an. Sorgfältig darauf achtend, dass sie nicht ausglitt oder irgendwo anstieß, tastete sie sich langsam hinüber zum Telefon an der Wand.
Jetzt rufe ich die Auskunft an und lasse mir die Nummer vom Speed-D-Mart geben. Vielleicht können die mir sagen, wo Duane abgeblieben ist.
Sie nahm den Hörer ab und hob ihn ans Ohr.
Stille.
Ist das Telefon tot?
Hat jemand die Leitung durchgeschnitten?
Sherry hatte das schon unzählige Male in Filmen oder im Fernsehen gesehen, aber sie glaubte nicht, dass so etwas im wirklichen Leben allzu oft vorkam.
Vielleicht hat Duane ja versucht anzurufen.
Aber wo ist er?
Sherry hängte auf.
Telefon oder nicht, der Minimarkt ist ja nur zwei Blocks weit entfernt.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer.
22:56
Sie knipste die Stehlampe an. Das grelle Licht tat Sherry in den Augen weh, aber sie gab ihnen keine Zeit, sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Blinzelnd ging sie zwischen Sofa und Couchtisch in die Hocke, hob ihr Höschen auf und zog es an.
Als Nächstes stieg sie in den kurzen Faltenrock, den Duane ihr letzte Woche geschenkt hatte. »Für den Fall, dass du dich mal ein bisschen weiblicher anziehen willst«, hatte er gesagt, und sie hatte darauf geantwortet: »Kann es sein, dass du auf Cheerleader stehst?«
Und er hatte gekontert: »Natürlich, solange sie so sexy sind wie du.«
Heute hatte sie den Rock zum ersten Mal angezogen. Für ihn.
Und jetzt muss ich damit durch die Nacht laufen, dachte sie, während sie den Reißverschluss hochzog und ihre Bluse suchte, die hinter dem Sofa auf dem Boden lag. Normalerweise kleidete Sherry sich ganz anders. Wenn sie nicht gerade unterrichtete, trug sie T-Shirts und Jeans, aber weil ein simples T-Shirt einfach nicht zu dem knallgelben Cheerleader-Röckchen passen wollte, hatte sie sich extra für diesen Abend eine Bluse aus glattem, glänzendem Stoff gekauft, die knallbunt mit üppigem Dschungel, blauen Lagunen und tropischen Vögeln bedruckt war.
Während sie die Bluse zuknöpfte, ging sie hinüber zum Sofa. Sie setzte sich und zog Socken und Turnschuhe an.
Dann schnappte sie sich von einem der Sessel ihre Umhängetasche aus Jeansstoff und eilte zur Tür.
Dort blieb sie stehen.
Habe ich alles?
Kleider, Tasche. Was hatte ich sonst noch dabei?
Das dürfte es gewesen sein.
Sie schaute auf die Uhr.
22:59
Sherry blieb stehen und wartete darauf, dass die Ziffern auf 23:00 umsprangen.
Habe ich die Kerze ausgeblasen?
Ja.
23:00
Sherry öffnete die Tür und trat hinaus in den Hausflur. Der lange Korridor war leer. Leise zog sie die Tür ins Schloss und prüfte, ob sie auch wirklich zu war.
Im Gang waren alle Türen geschlossen. Kein Geräusch drang aus den Wohnungen. Keine Stimmen, kein Fernseher, keine Musik. Das Einzige, was Sherry hören konnte, war der Wind, der draußen um das Gebäude heulte und irgendwelche Gegenstände scheppernd über die Straßen trieb.
Und wenn überhaupt niemand mehr hier wäre?
Wenn sie alle verschwunden wären?
»Das wäre vielleicht ein Ding«, murmelte sie vor sich hin.
Und darüber hinaus extrem unwahrscheinlich.
Das hier ist kein Film, sagte sie sich. Im richtigen Leben verschwinden nicht auf einmal alle Leute.
Also mach dir darüber mal keine Sorgen.
Außerdem, sagte sie sich, habe ich Sirenen gehört. Und einen Schuss - wenn es denn einer war. Also kann ich nicht der einzige Mensch auf Erden sein, ja nicht einmal der einzige in Los Angeles.
Aber vielleicht der einzige in diesem Gebäude.
Sherry schüttelte lächelnd den Kopf und stieg rasch die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. In der Eingangshalle öffnete sie eine Stahltür und begab sich über eine weitere Treppe in die Tiefgarage.
Die meisten Stellplätze dort waren von Limousinen oder Geländewagen belegt.
Duanes Stellplatz war leer. Sein Lieferwagen war fort.
Okay, dachte Sherry. Er ist zwar noch nicht zurück, aber jetzt weiß ich wenigstens, dass er ohne Probleme losgefahren ist.
Wahrscheinlich.
Sie schaute hinauf zu dem Gittertor, das die Garageneinfahrt zur Straße hin abschloss, aber da sie keine Möglichkeit hatte, es zu öffnen, ging sie wieder hinauf in die Eingangshalle.
Als Sherry die Haustür öffnete, hätte sie ihr ein heftiger Windstoß fast aus der Hand gerissen. Sie hielt sie fest, trat nach draußen und drückte die Tür mit dem Rücken ins Schloss.
Das ist nicht gut, dachte sie.
Aber es war auch nicht das Ende der Welt. Sherry
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