Rache
hatte schon stärkeren Sturm als diesen erlebt. In mehr oder weniger heftiger Ausprägung hatten sie so ein Wetter eigentlich fast jedes Jahr.
Sherry stieß sich von der Tür ab, zog den Kopf ein und stieg nach vorn gebeugt die sechs Stufen hinunter auf den Gehsteig. Der Wind zerrte ihr an Rock und Bluse und blies ihr feinen Sand ins Gesicht.
Sie blieb stehen und sah sich auf der Straße um. Sie war leer bis auf die in langen Reihen parkenden Wagen.
Schade, dass meiner nicht dabei ist.
Normalerweise fuhr Sherry mit ihrem eigenen Wagen zu Duane, aber heute war ihr Jeep zum x-ten Mal in der Werkstatt - und zwar für eine aufwändige und teure Kupplungsreparatur. (Es sah ganz so aus, als wäre in dem angeblich vollständig in den USA gefertigten Jeep heimlich eine japanische Kupplung verbaut worden.) Also hatte Duane sie mit seinem Lieferwagen abgeholt.
Zu Sherrys Wohnung waren es etwa drei Meilen - eine Entfernung, die man zu Fuß in einer guten Stunde zurücklegen konnte. Bei dem Sturm wäre das bestimmt ein aufregender Marsch, dachte sie.
Falls ich nicht überfallen, ausgeraubt, vergewaltigt oder erschossen werde, fällt mir bestimmt ein Baum auf den Kopf.
Aber Sherry hatte nicht vor, nach Hause zu gehen.
Sie wollte wissen, was mit Duane los war.
Also ging sie nach rechts, in Richtung Speed-D-Mart.
Bestimmt habe ich in meinem Leben schon klügere Dinge gemacht, dachte sie.
Aber was soll’s? Es sind doch nur zwei Blocks. Und was wäre die Alternative? Untätig in der Wohnung hocken und auf ihn warten?
Auf dem ungeschützten Gehsteig blies Sherry der Wind direkt entgegen. Er wehte ihr den Rock in die Höhe und fuhr ein paarmal so ungestüm unter ihre Bluse, dass der Stoff bis zu den Brüsten nach oben geschoben wurde. Ein paarmal blieb Sherry stehen und steckte die Enden der Bluse wieder zurück in den Rockbund. Schließlich hängte sie sich ihre Handtasche so um, dass der Tragegurt diagonal über die Brust verlief. Damit hatte sie die Hälfte ihres Problems gelöst, aber den Rock blies der Wind noch immer hoch.
Und jedes Mal wehte er Sherry dabei irgendwelchen Müll an die nackten Beine.
Kurz vor Ende des Blocks kam sie an eine schmale Querstraße, die sie mit Duane schon oft entlanggegangen war. Die Straße war gut beleuchtet und führte hinter einigen kleinen Geschäften und zwei Privatschulen vorbei zum Waschsalon gleich neben dem Speed-D-Mart. Auf der anderen Straßenseite befanden sich die Gartenzäune, Carports und Mülltonnen mehrerer Ein- und Mehrfamilienhäusern.
Einen Moment lang schaute Sherry die Straße entlang. Der Wind ließ leere Verpackungen und altes Laub über den Gehsteig wirbeln. Zeitungsseiten vollführten bodennahe Luftakrobatik. Eine schwarze Katze huschte aus den Schatten hervor, rannte über die Fahrbahn und verschwand unter einem parkenden Auto.
Menschen sah Sherry keine.
Trotzdem gab es zwischen hier und dem Minimarkt jede Menge dunkle Ecken, an denen einem jemand auflauern konnte.
Die Straße war ein verlassener Ort.
Wenn man hier in Schwierigkeiten kam …
»Lieber nicht«, murmelte sie und ging weiter den Robertson Boulevard entlang. Normalerweise war diese gro ße Nord-Süd-Achse durch den Westen der Stadt stark befahren, aber heute kamen nur ein paar wenige Autos an Sherry vorbei.
Immer noch besser als die kleine Straße, dachte sie.
Sie bog nach rechts ab und musste sich dabei im Gehen mit beiden Händen den Rock an die Oberschenkel drücken. Der Bürgersteig führte an einem Teppichgeschäft, einem Antiquitätenladen, einem Juwelier und schließlich an einer jüdischen Mädchenschule vorbei. Alle waren sie über Nacht geschlossen.
Eine über den Gehsteig flatternde Zeitungsseite verfing sich an Sherrys linken Schienbein und blieb so beharrlich dran hängen, dass Sherry sich bücken und sie wegnehmen musste. Als sie die Seite wieder losließ, wehte sie der Wind sofort weiter.
Jedes Mal, wenn sich Autoscheinwerfer näherten, blieb Sherry stehen in der Hoffnung, dass sie vielleicht zu Duanes Lieferwagen gehörten. Und nicht zu einem Wagen voller Vergewaltiger.
Sie überquerte die nächste Seitenstraße, auf der ein halbes Dutzend mannsgroße Palmwedel herumlagen. Autos sah sie keine.
Auf der anderen Straßenseite ging sie an einer Autowerkstatt, einem Händler für Fitnessgeräte, einem Blumenladen und einer privaten Vorschule vorbei. Auch sie hatten die Nacht über zu.
Als Sherry an der Vorschule vorbei war, kam der Parkplatz des Speed-D-Mart in
Weitere Kostenlose Bücher