Racheblut
die Frau, als sie mit einer dicken gemusterten Decke zurückkam.
Ash sah keinen Grund, ihr nicht die Wahrheit zu sagen. Sie wickelte sich in die Decke und erzählte ihr in groben Zügen, was passiert war, seit sie das Mädchen getroffen hatten. Sie bemühte sich, nüchtern und sachlich zu bleiben, beschönigte aber nicht, wie ihr Mann und ihre beiden Freunde getötet worden waren.
Die ältere Dame schlug die Hand vor den Mund und wirkte sichtbar geschockt. »Und du sagst, das ist alles hier in der Gegend passiert? In diesen Wäldern?«
Ash nickte stumpf. »Ja.«
»Meine Liebe, ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, aber so etwas habe ich noch nie gehört. Ich wüsste nicht, wo dieses nackte Mädchen hergekommen sein sollte. Hier gibt es nichts außer dem National Park und dem Schießstand drüben bei Wood End, aber der gehört diesen Bankern aus London, die man nie zu Gesicht kriegt. Das klingt alles sehr merkwürdig. Männer, die erst ein Mädchen jagen, dann dich und deine Freunde und versuchen, dich umzubringen. Was ist eigentlich aus dem Mädchen geworden?«
»Ich weiß es nicht.« Die Frau hatte recht. Das Ganze klang zu bizarr, und einen Moment lang befürchtete Ash, sie sei verrückt geworden. Doch dann riss sie sich zusammen. Es war geschehen. Alles. Genau so, wie sie es in Erinnerung hatte.
»Ich lüge Sie nicht an, Mrs. …«
»Dora, sag Dora zu mir.« Sie lächelte. »Das behaupte ich ja auch gar nicht, meine Liebe. Ich sehe ja, dass du etwas Schreckliches erlebt hast.«
»Ich muss die Polizei anrufen. Mein Handy ist kaputt. Haben Sie hier Telefon?«
»Natürlich«, lachte Dora. »Wir leben vielleicht im Busch, aber im 21. Jahrhundert sind wir trotzdem angekommen.«
»Tut mir leid, so meinte ich das nicht«, sagte Ash und zog die Decke fester um sich.
Dora legte ihr mitfühlend die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, meine Liebe, ich weiß. Jetzt warte einfach hier, während ich die Polizei anrufe. Und danach mache ich dir etwas zu essen.«
Ash nickte. »Danke.«
Dora ging wieder hinaus, und Ash stand vor Schmerzen ächzend auf. Sie hatte gesehen, dass die Frau ihr ihre Geschichte nicht geglaubt hatte, aber das überraschte sie nicht. Sie klang einfach zu haarsträubend. Drei, wahrscheinlich sogar vier Morde, mindestens zwei Mörder, und das alles in dieser stillen Gegend am Ende der Welt. Ash hätte eine solche Geschichte auch nicht geglaubt. Sie würde annehmen, die Erzählerin stehe unter Drogen. Doch im Prinzip war es ja egal, solange sie nur die Polizei rief. Sollte die sich damit auseinandersetzen.
Sie hörte, wie Dora nebenan mit jemandem telefonierte, und ging langsam zur Tür. Als sie das Wohnzimmer betrat, legte Dora den Hörer auf und wandte sich ihr zu. »Sie sind unterwegs, aber sie werden wohl gut zwanzig Minuten brauchen. Wir wohnen ziemlich weitab vom Revier.« Sie rieb sich die Hände an der Schürze. »Komm, ich mache dir ein schönes warmes Frühstück.«
Allein der Gedanke an Essen bereitete Ash Übelkeit.
»Schon gut, Dora«, sagte sie mit einem matten Lächeln. »Ich habe eigentlich keinen Hunger.«
»Du musst etwas essen.«
»Bitte. Kann ich einfach eine Tasse Tee haben?«
Dora versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Wie du magst, meine Liebe. Ich setze den Kessel auf.«
»Haben Sie eine Toilette, die ich benutzen kann?«
»Sicher doch, meine Liebe. Sogar im Haus.«
Sie zwinkerte Ash zu und deutete auf eine Tür neben der Treppe.
»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar«, sagte Ash und überlegte, ob sie auch nach einer Dusche fragen sollte, entschied sich aber dagegen, weil sie anschließend nur wieder in ihre nassen Klamotten würde schlüpfen müssen.
»Das ist doch das Mindeste, was ich tun kann«, entgegnete Dora und schlurfte an ihr vorbei in die Küche.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Ash hatte keine Ahnung, was, aber etwas nagte an ihr. Oder bildete sie es sich nur ein? Hatten die Vorfälle der vergangenen Nacht sie so paranoid werden lassen, dass sie nun alles und jeden verdächtigte – sogar eine freundliche alte Dame?
Eine freundliche alte Dame, die allein im Wald lebt, in dem mehrere Morde begangen wurden, aber völlig ungerührt bleibt?
Ash schloss die Toilettentür hinter sich ab, holte tief Luft und zwang sich, ruhiger zu werden. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, der dringend eine Politur benötigte, und als Ash sich darin betrachtete, hätte sie am liebsten weinen mögen. Sie sah genauso aus, wie sie sich fühlte. Unter den
Weitere Kostenlose Bücher