Racheengel
abgeholt hatte.
Der Kaffee und der süßsaure Geruch des Buttermilch-Shandys. Bei der Erinnerung daran drehte sich Galya der Magen um. Sie rollte sich zum Rand des Bettes, die Decken verfingen sich in ihren Beinen. Sie würgte, brachte aber nur ein paar dunkle, bittere Spritzer heraus.
Der Kaffee, den er ihr gegeben hatte.
War da etwas drin gewesen? Oder war sie einfach nur so müde gewesen, dass sie nicht mehr länger wach bleiben konnte? Mit Ausnahme der Schuhe, die sie gestohlen hatte, war sie immer noch vollständig bekleidet, also hoffte sie, dass er sie nicht angerührt hatte.
Galya setzte sich im Bett auf, aber der Schmerz folgte ihrer Bewegung und kroch hinauf in ihren Kopf. Sie presste ihre Handballen gegen die Schläfen.
Als das pulsierende Klopfen in ihren Ohren abebbte, hielt sie den Atem an und lauschte ins Haus hinein.
Stille. Nicht einmal eine Uhr tickte.
Sie schob die Decken beiseite und setzte die nackten Füße auf den Boden. Die rauen Teppichfasern kratzten auf der gereizten Haut, der stechende Schmerz ließ sie aufkeuchen.
Im Halbdunkel versuchte sie, das Zimmer in sich aufzunehmen. Jahrzehnte alte Tapeten, die an den Ecken schon abblätterten. An der Wand eine billige Kommode. Die Luft roch nach Feuchtigkeit und, fast schon verweht, noch nach etwas anderem.
Galya drückte sich hoch, stand auf und taumelte gegen die Kommode. Sie lehnte sich einen Moment dagegen, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, dann trat sie ans Fenster und zog die dünne Gardine auf.
Ein einzelnes Fenster ohne Griff. Innen war die Scheibe mit schwarzer Farbe bedeckt. Winzige Ritzen in den Fensterecken ließen ein wenig Licht ein. Hier und da war die Farbe abgekratzt worden, augenscheinlich von Fingernägeln. Ohne lange nachzudenken, betastete Galya diese Stellen und probierte mit ihren eigenen Nägeln, wie fest die Farbe saß.
Wer bestrich denn ein Fenster mit Farbe? Warum?
Jemand, der etwas zu verbergen hat, dachte sie.
Die Angst kroch in ihr hoch, zunächst nur als kleine Blase, aber sie schwoll an.
Galya durchquerte das Zimmer und stützte sich dabei an der Wand ab. Noch bevor sie es ausprobierte, wusste sie schon, dass die Tür zugesperrt sein würde. Massiv stand sie in ihrem Rahmen und gab keinen Millimeter nach. Galya fuhr mit der Fingerspitze über die Kante und fühlte Kratzer in der dicken Farbe.
Sie legte ein Ohr an die kalte, glatte Oberfläche und lauschte erneut. Hinter der Tür war alles still und ruhig.
Galya atmete ein und hielt einen Moment unentschlossen die Luft an, dann rief sie: »Hallo?«
Friedhofsstille, nicht einmal Verkehrslärm drang aus der Ferne.
Sie legte eine Hand auf das lackierte Holz, als wolle sie den Herzschlag des Hauses fühlen. Dann holte sie aus und schlug zweimal gegen die Tür.
»Hallo?«, rief sie noch einmal, diesmal energischer.
Da war ein Laut.
Galya trat von der Tür zurück.
Von irgendwo über ihr kam ein Geheul wie von einem verletzten Hund oder irgendeinem Tier, das auf die Schlachtbank geführt werden sollte.
Galya rief nicht noch einmal.
Stattdessen wandte sie sich zum Bett um und setzte sich auf die Kante. Sie kaute am Daumennagel, überlegte und versuchte zu verhindern, dass die Angst aus ihrem Bauch heraus in den Kopf stieg, wo sie sie jeder Vernunft berauben würde.
Dieser Billy Crawford wollte ihr gar nicht helfen, so viel jedenfalls war klar. Was hatte er also vor? Die Kratzer an der Fensterscheibe und der Tür – hier war schon einmal jemand eingesperrt gewesen. Jemand hatte an der Farbe gekratzt und versucht herauszukommen.
Und was war mit diesem Menschen geschehen?
Galya fiel wieder ein, was der Mann ihr am Tisch gesagt hatte, als er ihr den bitteren Kaffee zu trinken gab.
»Ich bin die sechste«, sagte sie laut.
Sie hielt sich noch eine Hand vor den Mund, doch es war schon zu spät, der Gedanke war ihr bereits entfleucht.
Tränen brannten in ihren Augen, die Angst kroch aus ihrer Brust hoch und schnürte ihr die Kehle zu. Fünf waren schon vor ihr dagewesen. Fünf hatten an der Tür und dem Fenster gekratzt. Fünf hatten genau hier gesessen, wo Galya jetzt saß. Hatten sie geweint? Hatten sie geschrien?
Sie würde nicht weinen.
Sie würde nicht schreien.
Was immer dieser Mann mit ihr vorhatte, welche Begierden auch immer dahintersteckten, dass er sie in dieses Zimmer eingesperrt hatte, sie würde sich nicht der Angst ergeben. Sie würde handeln.
Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen ab, stand auf und trat zur
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