Racheherz - Roman
Untersuchungszimmer im vierzehnten Stock konnte Ryan auf Newport Harbour hinunterblicken, auf den Pazifischen Ozean und auf ferne Schiffe, die zu unbekannten Gestaden aufgebrochen waren.
Forest Stafford, sein Arzt, hatte ihn bereits untersucht und eine medizinisch-technische Assistentin hatte ihn einem EKG unterzogen. Dann war Ryan zu einer Praxis für bildgebende Verfahren im dritten Stock hinuntergefahren, wo eine Echokardiografie vorgenommen worden war.
Jetzt wartete er an dem Fenster im vierzehnten Stock darauf, dass Dr. Stafford mit der Analyse der Untersuchungsergebnisse zurückkam.
Eine Armada von großen weißen Wolken segelte langsam nach Norden. Ihre Schatten zeichneten sich so schwarz wie Eisen auf dem Meer ab und drückten die Brandung nieder.
Hinter Ryan ging die Tür auf. Er fühlte sich so schwerelos wie eine Wolke, als er sich vom Fenster abwandte, und fürchtete fast, er würde keinen Schatten werfen, wenn das Licht schräg auf ihn fiel.
Forest Staffords kräftiger quadratischer Körper stand im Gegensatz zu seinem eher länglichen Gesicht. Er sah ein
bisschen so aus, als wirke eine besondere Schwerkraft auf ihn, die sich ausschließlich auf sein Gesicht beschränkte. Da er ein sensibler Mann war, hätte es sich bei der entstellenden Kraft, die seit Jahren am Werk war, um den Schmerz seiner Patienten handeln können.
Der Arzt lehnte sich an die Arbeitsfläche, in die das Waschbecken eingebaut war, und sagte: »Ich vermute, du möchtest, dass ich gleich zur Sache komme.«
Ryan unternahm keine Anstalten, sich zu setzen, sondern blieb mit dem Rücken zum Fenster und zum Meer, das er liebte, stehen. »Du kennst mich, Forry.«
»Es war kein Herzinfarkt.«
»Nichts so Einfaches«, vermutete Ryan.
»Dein Herz ist hypertroph. Vergrößert.«
Ryan verteidigte sich sofort, als sei Forry ein Richter, der ihn, wenn er gute Argumente vorbrachte, für gesund erklären konnte. »Aber … ich habe mich immer fit gehalten und gesund ernährt.«
»Ein Mangel an Vitamin B1 kann manchmal etwas damit zu tun haben, aber in deinem Fall bezweifle ich, dass es einen Zusammenhang mit Ernährung oder Bewegungsmangel gibt.«
»Womit denn dann?«
»Es könnte ein angeborenes Leiden sein, das sich erst jetzt zeigt. Oder übermäßiger Alkoholkonsum, aber das ist bei dir wohl auszuschließen.«
Es war nicht etwa plötzlich kalt im Untersuchungszimmer geworden und die Außentemperatur vor dem Fenster war auch nicht jäh gesunken. Dennoch lief Ryan ein Schauder über den Nacken und die Wirbelsäule hinunter.
Der Arzt zählte die möglichen Ursachen an den Fingern
auf. »Vernarbung des Endokards, Amyloidose, Vergiftung, anomaler Zellmetabolismus …«
»Vergiftung? Wer sollte mich denn vergiften wollen?«
»Niemand. Es ist keine Vergiftung. Aber um eine akkurate Diagnose zu erstellen, möchte ich, dass du dich einer myokardialen Biopsie unterziehst.«
»Das klingt nicht so, als würde es Spaß machen.«
»Es ist unangenehm, aber nicht schmerzhaft. Ich habe mit Samar Gupta gesprochen, einem ausgezeichneten Kardiologen. Er kann dich heute Nachmittag zu einer Voruntersuchung empfangen - und die Biopsie gleich morgen früh durchführen.«
»Das lässt mir ja nicht gerade viel Zeit zum Nachdenken«, sagte Ryan.
»Was gäbe es da denn nachzudenken?«
»Über das Leben … den Tod … ich weiß es selbst nicht.«
»Ohne eindeutige Diagnose können wir keine Entscheidung hinsichtlich der Behandlung treffen.«
Ryan zögerte. Dann fragte er: »Ist es denn behandelbar?«
»Vielleicht ja«, sagte Forry.
»Ich wünschte, du hättest einfach nur Ja gesagt.«
»Glaube mir, Dotcom, ich wünschte, das könnte ich.«
Bevor Forest Stafford Ryans Internist geworden war, hatten sie sich auf einer Oldtimerrally kennengelernt und angefreundet. Für Jane Stafford, Forrys Frau, war Samantha inzwischen fast wie eine Tochter. Ihr verdankte er auch die Verbreitung von »Dotcom«.
»Samantha«, flüsterte Ryan.
Erst als er ihren Namen aussprach, wurde ihm bewusst, dass die vorläufige Diagnose seine Gedanken vollständig auf den springenden Punkt dieses schicksalhaften Ereignisses
fixiert hatte, auf nichts anderes als die bittere Erkenntnis seiner Sterblichkeit.
Jetzt machte sich sein Verstand von dieser Fixierung frei, und seine Gedanken überschlugen sich.
Die Aussicht auf den drohenden Tod war anfangs reine Abstraktion gewesen, die eisige Angst in ihm erzeugt hatte. Aber als er daran dachte, was er außer seinem nackten Leben
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