Racheherz - Roman
wir uns alle fürchten, Ryan, aber nicht vor dem Sterben.«
Auf dem luxuriösen Rücksitz des Mercedes S600 wurde Ryan während der Heimfahrt klar, dass er die letzte Bemerkung des Kardiologen nicht verstanden hatte.
Vom Tag unserer Geburt an sollten wir uns alle fürchten, Ryan, aber nicht vor dem Sterben.
In der Arztpraxis waren ihm die Worte in dem Moment weise und angebracht erschienen. Aber Ryans Furcht und sein Wunsch, sie zu unterdrücken, hatten ihn dazu gebracht, diese Äußerung als Beschwichtigung zu verstehen, obwohl sie das in Wirklichkeit gar nicht war.
Jetzt kamen ihm die Worte des Arztes mysteriös vor, kryptisch sogar. Und verstörend.
Hinter dem Steuer der Limousine warf Lee Ting wiederholt Blicke in den Rückspiegel. Ryan tat, als bemerke er die Besorgnis seines Hausmeisters nicht.
Lee konnte nicht wissen, welchen der vielen Ärzte in dem Ärztehaus Ryan aufgesucht hatte, und er war weiterhin zu
taktvoll, um zu fragen. Dennoch war er ein extrem einfühlsamer Mann, dem der feierliche Ernst seines Arbeitgebers nicht entging.
Im Westen vergoldete der Sonnenschein die Phönixpalmen und die Dächer. Die spitz zulaufenden Schatten der Bäume und Gebäude, der Laternenpfähle und Fußgänger zeigten nach Osten, als sehne sich die ganze Küste nach dem Anbruch der Nacht.
Bei den seltenen Gelegenheiten, wo Lee bisher als Chauffeur fungiert hatte, war sein Fahrstil so gemessen gewesen, als sei er Jahrzehnte älter als in Wirklichkeit und nähme an irgendeiner königlichen Prozession teil. Doch diesmal überschritt er mit dem fließenden Verkehr die Geschwindigkeitsbeschränkungen und fuhr bei Gelb über Kreuzungen.
Er schien zu wissen, dass sein Arbeitgeber den Trost seines Zuhauses, eine Zuflucht brauchte.
7
Auf dem Rückweg von Dr. Guptas Praxis rief Ryan Kay Ting an und gab ihr Anweisungen für das Abendessen, die es erforderlich machten, dass sie sich in sein Lieblingsrestaurant begab, um das Gewünschte dort zu holen.
Später brachten die Tings unter Verwendung des Lifts einen Servierwagen in das Wohnzimmer im zweiten Stock, das Teil der herrschaftlichen Suite war, die er dort bewohnte. Sie klappten die Seitenteile hoch, um den Wagen zu einem Esstisch zu machen, und strichen die weiße Tischdecke darauf glatt.
Zu Ryans großem Vergnügen waren dort drei Schälchen mit hausgemachtem Speiseeis arrangiert - dunkle Schokolade, Schwarzkirsche und Limoncello, jedes in einer größeren Schale auf zerstoßenem Eis. Es stand aber auch eine Portion Schokoladenkuchen ohne Mehl bereit, ein Zitronentörtchen, ein Erdnussbuttertörtchen, Erdbeeren in Sauerrahm mit etwas braunem Zucker, eine Auswahl von exotischen Keksen und mehrere Flaschen Kräuterlimonade in einem Eiskübel.
Da Ryan sich sonst nur ein- oder zweimal in der Woche einen Nachtisch gönnte, machte diese untypische Schlemmerei die Tings natürlich neugierig.
Er gab vor, den Abschluss eines besonders lohnenden Geschäfts zu feiern, aber er wusste, dass sie ihm nicht glaubten. Das Aufgebot an Süßigkeiten schien eher die Henkersmahlzeit eines Verurteilten zu sein, der trotz seiner vierunddreißig Jahre nie ganz erwachsen geworden war.
Während er an dem Tisch mit den Rollen saß und sich allein über die Desserts hermachte, schaute Ryan auf dem großen Plasmabildschirm des Fernsehers in eine Reihe von alten Filmen hinein. Er suchte nach Komödien, doch keine kam ihm komisch vor.
Kalorien spielten keine Rolle mehr, Cholesterin ebenso wenig, und anfangs war dieses Schlemmen ohne Schuldgefühle eine so neuartige Erfahrung, dass er es genoss. Aber schon bald wurde ihm das pubertäre Buffet zu viel und widerte ihn an.
Um dem Tod eine lange Nase zu drehen, aß er mehr, als er eigentlich wollte. Die Kräuterlimonade begann wie Sirup zu schmecken.
Er rollte den Wagen aus der Suite, ließ ihn im Flur stehen und benutzte die Haussprechanlage, um Kay zu sagen, sie könne abräumen.
Am früheren Abend hatte sie schon die Bettdecke zurückgeschlagen und die Kissen aufgeschüttelt.
Als Ryan einen Schlafanzug anzog und ins Bett schlüpfte, bestürmte ihn Schlaflosigkeit. Wenn ihn die Furcht vor dem Tod nicht ohnehin wach gehalten hätte, dann hätte der hohe Blutzuckerspiegel ihn unruhig gemacht.
Barfuß streifte er durchs Haus und hoffte, so seine Angst loszuwerden.
Vor den großen Fenstern erstreckte sich das funkelnde Panorama der vielen kleinen Städte von Orange County auf der weiten Ebene unter ihm. Das schwache Licht von draußen war
Weitere Kostenlose Bücher