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Racheherz - Roman

Racheherz - Roman

Titel: Racheherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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sich ein Dutzend Gesichter angesehen hatte, schien ihm der Begriff absolut treffend.
    In einigen Fällen waren die Augen im Moment des Todes wohl offen erstarrt. Manchmal waren die Lider jedoch mit kleinen Streifen Klebeband an den Brauen befestigt.
    Ryan versuchte, sich keine Gedanken darüber zu machen, warum Barghest offene Augen so wichtig waren. In einem Moment geradezu unheimlicher Gewissheit begriff er jedoch, dass der Euthanasieaktivist jeden toten Blick auskostete. Wie ein Vergewaltiger, der sein Opfer dazu zwingt, ihm fest in die Augen zu sehen. So betrachtet diente jedes Foto einem quasi pornographischen Zweck.
    Das Album fühlte sich plötzlich schmierig an und er legte es aus der Hand.
    Er rollte den Bürostuhl vom Schreibtisch zurück, beugte sich vor und ließ den Kopf hängen. Er atmete durch den Mund und versuchte, eine aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken.
    Sein Herz raste zwar nicht, aber jeder Herzschlag fühlte sich an wie eine Woge, eine gewaltige Dünung, die sich in seiner Brust brach. Der Fußboden schien sich zu heben und zu senken, als triebe er im Wasser, und ein dünnes Gellen klang wie Möwen, die in der Ferne schrien, obwohl ihm klar war, dass er in Wirklichkeit dem schwachen Pfeifen seiner eigenen eingeschränkten Atmung lauschte.
    Die inneren Wellen rollten so heran wie echte Wellen auf
dem Meer, immer in Serien, einige größer als andere und mit Pausen dazwischen. Er wusste, dass die Herzschläge von ungleichmäßiger Stärke und der gestörte Rhythmus Vorboten eines Herzstillstandes sein konnten.
    Er legte eine Hand auf seine Brust, als könnte er so Ruhe in sein Herz pressen.
    Wenn Ryan in diesem Haus starb, war nicht auszuschließen, dass Wilson Motts Agenten lieber kein Risiko eingehen und seine Leiche hier zurücklassen würden, als Erklärungen dafür abzugeben, warum er und sie hier gewesen waren. Falls Dr. Death ihn fand, konnte er durchaus als ein weiteres Ausstellungsstück in dessen Kadaver-Kollektion enden. Nackt ausgezogen, konserviert und mit einem luftdichten Überzug versehen, nachdem man ihn in eine erniedrigende Pose gebogen hatte, würde er eine derzeit noch freie Ecke des Hauses schmücken. Dort wäre er dann Spencer Barghests Aufmerksamkeit und seinen unsittlichen Berührungen ausgesetzt.

18
    Ob es nun einem Akt reiner Willenskraft oder der Gnade des Schicksals zuzuschreiben war - jedenfalls überlebte Ryan die Episode und fühlte nach ein paar Minuten, wie sein Herz das maßvolle und rhythmische Schlagen wieder aufnahm.
    Die trockene, kühle Luft in Barghests Haus roch nach nichts, allerdings hatte sie einen leicht metallischen Geschmack. Ryan riet sich selbst, der Ursache dafür nicht auf den Grund zu gehen, und hörte auf, durch den Mund zu atmen.
    Er setzte sich wieder aufrecht auf den Bürostuhl und rollte an den Schreibtisch zurück. Nach kurzem Zögern schlug er das erste Ringbuch auf der Seite wieder auf, die er betrachtet hatte, als ihn die Übelkeit überkam.
    Er verließ sich weiterhin auf nichts anderes als eine Ahnung und blätterte mit grimmiger Entschlossenheit den ersten Fotoband durch. Seine Geduld wurde endlich belohnt, als er das dritte Gesicht im zweiten Ordner sah.
    Samantha. Ihre Augen wurden durch Klebestreifen auf den Lidern aufgehalten und ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet, als hätte sie in dem Moment, als der Verschluss der Kamera sich öffnete, einen zufriedenen Seufzer getan.
    Es war natürlich nicht Samantha, sondern Teresa, ihre Zwillingsschwester. Vor dem Tod hatte sie dahinvegetiert. Aber auch wenn die Monate, die sie nach dem Autounfall im Bett gelegen hatte, ihre Schönheit gemindert hatten, so war Teresa doch trotz ihrer Blässe immer noch hübsch. Ihr Leiden
verlieh ihr sogar einen ätherischen Glanz, die fragile überirdische Schönheit einer Märtyrerin, wie sie auf dem Gemälde eines alten Meisters in den Himmel auffährt.
    Offenbar hatte Barghest Rebecca schon vor sechs Jahren gekannt. Er musste bei Teresas Tod zugegen gewesen sein.
    Ihrem eigenen Bericht zufolge hatte auch Samantha während dieser letzten Stunden am Bett ihrer Schwester gesessen. Und doch hatte sie Barghest nie erwähnt.
    Sie sprach selten von ihrer verlorenen Zwillingsschwester. Aber das war verständlich und in keiner Weise verdächtig. Der Verlust war mit Sicherheit immer noch schmerzhaft für sie.
    Erst vor wenigen Tagen, bei dem Abendessen unter den Erdbeerbäumen, hatte er erfahren, wie lange Teresa gelitten hatte. Bis dahin hatte

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