Racheherz - Roman
sprachen, als habe sie die Scheußlichkeiten geahnt, die man ihr nach ihrem Tod zumutete.
Als er wieder sprechen konnte, fragte Ryan: »Wissen die Behörden, was er hier rumstehen hat?«
»Jede … Person in dieser Sammlung hat ihre Leiche entweder vor dem Tod Barghest selbst überschrieben - oder die Familie hat es getan. Er hat sie schon auf diversen Veranstaltungen ausgestellt.«
»Gesundheitsrisiken?«
»Bestehen nicht, sagen die Experten.«
»Der geistigen Gesundheit eines Menschen tut das aber bestimmt nicht gut.«
»Das wurde alles durch richterlichen Beschluss geregelt. Die Gerichtshöfe haben befunden, es sei eine legitime Kunstform, ein politisches Statement, von anthropologischem und erzieherischem Wert, hip, cool und vergnüglich.«
Ryan ekelte sich nicht etwa deshalb, weil er in Gesellschaft von Toten war, sondern weil er ihre Ausbeutung als einen Verstoß gegen die Menschenwürde empfand. Er wandte den Blick von den drei Exponaten ab.
»Wann fangen wir an, den Löwen Christen zum Fraß vorzuwerfen?«, fragte er sich laut.
»Der Kartenvorverkauf beginnt nächsten Mittwoch.«
Sie kehrte in den Flur zurück, damit er allein eine Runde durch das Haus drehen konnte.
Am Ende eines Korridors, der vom Wohnzimmer abging, stand ein vierter schillernder Kadaver. Er war ins Licht eines Punktstrahlers getaucht.
Dieser Mann musste bei einem Unfall oder infolge brutaler Prügel ums Leben gekommen sein. In dem grässlich in Mitleidenschaft gezogenen Gesicht war das linke Auge zugeschwollen und das rechte blutrot. Ein Wangenknochen war zertrümmert, das Stirnbein glatt durchgebrochen; eine Hälfte davon hatte sich leicht verschoben.
Ryan fragte sich, ob das Gehirn wohl im Schädel blieb oder ob es entfernt wurde. Und was war mit den übrigen Organen? Er kannte die einzelnen Schritte des Konservierungsprozesses nicht.
Er hatte bereits begonnen, sich auf diese barbarische »Kunst« einzustellen. Dabei fand er sie nicht etwa weniger anstößig als im ersten Moment, wappnete sich aber mit Neugier und einer Art freudloser Verwunderung gegen Mitleid und Empörung.
Er redete sich ein, seine Reaktion auf diese Scheußlichkeiten sei nicht Apathie, noch nicht einmal Gleichgültigkeit, sondern eine unverzichtbare stoische Gelassenheit. Wenn er sein Mitgefühl mit diesen Männern und Frauen und seinen Ekel davor, was man mit ihren Überresten angestellt hatte, nicht unterdrückte, würde er nicht fähig sein, die notwendige Suche fortzusetzen, wegen der er überhaupt hergekommen war.
Im Schlafzimmer stützte ein Gerüst eine tote Frau in einer sitzenden Haltung. Ihre anzügliche Pose und der stechende Blick ihrer toten Augen verstörten Ryan so sehr, dass er sich in dem Raum und dem angrenzenden Badezimmer nur flüchtig umsah.
In Barghests Arbeitszimmer machte Ryan die einzige Entdeckung, die für ihn persönlich relevant war.
In einem Bücherregal fand er zwischen Büchern und Zeitschriften zwei Ringbücher mit qualitativ hochwertigen Farbfotos im Format 24x30. Gesichter.
Jedes Gesicht war ausdruckslos und nicht ein einziges Augenpaar sah in die Kamera oder schien den Blick auf irgendetwas zu richten. Es waren die Gesichter von Toten.
Jede Fotografie wurde von einer Klarsichthülle geschützt. An jeder Hülle war ein kleines Etikett befestigt, auf dem in säuberlicher Handschrift eine mehrstellige Zahl stand, bei der es sich möglicherweise um eine Aktennummer handelte.
Ryan vermutete, dass diese Menschen - oder ihre Angehörigen - Barghest gebeten hatten, ihnen bei ihrem Scheiden aus dieser Welt durch Selbstmord oder, im Falle der Handlungsunfähigen, durch die Verabreichung einer tödlichen, aber nicht nachweisbaren Substanz zu assistieren.
Das Fehlen von Namen und Todesdaten war ein Hinweis darauf, dass Barghest fürchtete, die Fotografien könnten sich trotz der derzeitigen gesellschaftlichen Toleranz gegenüber der Form von Mitgefühl, die er mit solcher Begeisterung aufbrachte, als belastend erweisen.
Ryan stellte erleichtert fest, dass es in diesem Raum keinen Kadaver gab, der ihm zusah. Er setzte sich mit den beiden Ringbüchern an den Schreibtisch, ohne zu wissen, weshalb er sich dazu zwingen sollte, so viele Gesichter von Leichen
eingehend zu betrachten, doch seine Intuition gab ihm ein, diese Tortur würde sich lohnen.
Barghests Trophäen waren beiderlei Geschlechts, jung und alt und allen Rassen angehörig. Das Wort Trophäen überraschte Ryan, als es ihm durch den Kopf ging, doch nachdem er
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