Racheherz - Roman
ohne Zweifel echt, denn ihr Puls beschleunigte sich so stark, dass es an ihrem schlanken Hals zu sehen war. Der Kimono verbarg das Beben nicht, das ihren Körper erfasste, sondern die weiten Ärmel und der lose Faltenwurf der schillernden Seide sorgten erst recht dafür, dass ihr Zittern selbst im Kerzenschein deutlich zu erkennen war.
Als Ryan geendet hatte, atmete Sam zweimal tief ein, löste ihren Blick von seinen Augen und wandte ihn ihren Händen zu, die mit seinen verschlungen waren. Dann stieß sie mit ihrer ersten Frage entschlossen zum Kern des Grauens vor.
»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du ein neues Herz bekommst?«
»Pro Jahr brauchen viertausend Amerikaner ein Transplantat. Aber es sind jährlich nur etwa zweitausend Spenderherzen verfügbar.«
»Also fifty-fifty«, sagte sie.
»Nein, nicht so gut. Das Spenderherz muss mit meinem Immunsystem zurechtkommen. Es muss mit den Gewebeeigenschaften des Empfängers möglichst weit übereinstimmen, um die Abstoßungsreaktion möglichst niedrig zu halten.«
»Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass man ein passendes Herz findet?«
»Ich habe die gängigste Blutgruppe. Das ist gut. Aber es gibt auch noch andere Kriterien. Und selbst wenn sämtliche Voraussetzungen erfüllt sind, wird das Herz an jemanden gehen, der weiter oben auf der Warteliste steht, sofern die medizinischen Daten auch zu ihm passen.«
»Du stehst bereits auf der Liste?«
»Provisorisch. Nächste Woche werde ich mich den psychologischen Tests unterziehen. Davon hängt alles ab.«
»Warum?«
»Sie versuchen, soziale Faktoren und Verhaltensmerkmale herauszufiltern, die eine Genesung behindern würden.«
»Du meinst … so was wie Alkoholismus?«
»Alkoholismus, Rauchen, Probleme mit der Einstellung zum Leben, die es bei mir weniger wahrscheinlich machen als bei einem anderen Patienten, dass ich die verordneten Medikamente nehme und meinen Lebenswandel ändere.«
Sam sah von ihren Händen auf, mied seinen Blick und starrte die vier Kerzen an, als könnte sie aus ihren Flammen die Zukunft lesen. »Intelligenz muss etwas sein, wonach sie suchen. Ein kluger Patient sollte ein besserer Patient sein.«
»Vielleicht.«
»Das spricht für dich. Was noch? Wie sieht es mit der positiven Seite aus?«
»Ich bin jung und ansonsten bei guter Gesundheit. Wenn ich Probleme mit mehreren Organen hätte oder Diabetes hätte, wäre ich kein idealer Kandidat.«
Samantha zog eine Kerze näher und pustete erst leicht hinein, damit die Flamme wachsen konnte, bevor sie sie ausblies. »Was noch? Ich will mehr Positives hören.«
»Ich brauche keine Einwilligung vonseiten einer Versicherung. Ich kann aus eigener Tasche bezahlen.«
Als sich ein bleiches Band aus Rauch von dem schwarzen Docht löste, der kurzzeitig knisterte und zischte, zog Samantha eine zweite Kerze näher zu sich und blies auch sie aus.
Ryan sagte: »Manchmal stellt die Entfernung ein Problem dar. Wenn der Hirntod eines Spenders festgestellt wird und Chirurgen sein Herz entnehmen, können sie es auf fünf Grad abgekühlt in einer Salzlösung aufbewahren - aber nur für sechs Stunden.«
»Also tut das Ärzteteam, das ein Herz rausoperiert hat, was? Sieht es sich nach einem Empfänger innerhalb eines bestimmten Radius’ um?«
»In meinem Fall brauchen sie das Herz nicht zu mir zu bringen. Ich kann mit dem Learjet zu ihnen kommen, während sie den Spender durch Geräte am Leben erhalten.«
Sie tauchte Daumen und Zeigefinger in den letzten Rest ihres Weins und drückte die Flamme der dritten Kerze damit aus.
»Der Prozentsatz derer, die nach einer Transplantation fünf Jahre überleben, nähert sich langsam, aber sicher siebzig Prozent«, sagte er.
Ohne ihre Finger noch einmal anzufeuchten, löschte Sam die letzte Flamme mit zwei Fingerspitzen und zischte dabei, als fühle sie die Hitze, aber auch so, als wolle sie sie fühlen.
Die Küchentür war geschlossen und durch den Vorhang am Fenster fiel kein Licht auf die Veranda.
»Wenn ich die ersten fünf Jahre schaffe, stehen meine Chancen gut, es weitere fünf Jahre zu schaffen. Und auf medizinischem Gebiet tut sich viel. Jedes Jahr. Sehr viel.«
Obwohl die Nacht nicht absolut schwarz war, hätte sie Samantha Deckung geben sollen. Und doch glitzerte auf ihrem Gesicht der stille Kummer, den sie nicht länger unterdrücken konnte, als enthielten ihre Tränen Phosphorsalz.
Sie stieß ihren Stuhl vom Tisch zurück, stand auf, ohne seine Hand loszulassen, und sagte:
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