Racheherz - Roman
misstrauen, als er es sich bisher gestattet hatte.
Er steckte das Foto wieder in den Umschlag und legte ihn in eine Schublade seines Schreibtischs.
24
In seidenen Pantoffeln und einem blau-und-golden gemusterten Kimono war Samantha so viel bezaubernder, als Ryan sie in Erinnerung gehabt hatte. Er fühlte sich augenblicklich entwaffnet, und sein aufflammendes Verlangen fiel ihm in den Rücken.
Er hatte in den letzten Tagen so viel Zeit damit verbracht, ihre verlorene Zwillingsschwester anzustarren, deren Schönheit durch ihr Leiden verwelkt war, dass seine Erinnerung an Samanthas außergewöhnlich schönes Gesicht verwischt worden war.
Sowie Ryan die Tüten mit dem Essen in der Küche abgestellt hatte, flog Sam in seine Arme. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie ihn unter Küssen geradewegs ins Schlafzimmer gezogen, und er hätte sich beinah ihrer Führung überlassen.
Das Verrückte war, dass er in seiner Erinnerung die Stimme der jungen Frau hörte, die aus dem Navigationssystem des Cadillac Escalade gesprochen und ihm in Denver den Rückweg von dem Park voller Espen zu seinem Hotel gezeigt hatte. Diese bizarre Assoziation dämpfte die Flamme seines Verlangens, und er hatte sich wieder unter Kontrolle.
»Ich bin völlig ausgehungert«, sagte er.
»Das soll wohl ein Witz sein.«
»Ich komme wirklich fast um vor Hunger.«
»Du musst tatsächlich großen Hunger haben.«
»Sieh mal«, sagte er, »Sandwiches mit Corned Beef.«
»Und ich dachte wirklich, in diesem Kimono sähe ich scharf aus.«
»Und mit diesem Käse, den du so magst, und dem ganz speziellen Senf drauf.«
»Beim nächsten Mal empfange ich dich mit Corned Beef und Käse belegt.«
»Und mit dem speziellen Senf«, sagte er.
»Mit eingelegten Gurken als Ohrringen.«
»Das ist modisch zu gewagt. Sieh mal, Krautsalat mit Paprika und Kartoffelsalat und diese Beilage aus drei Sorten Bohnen und Paprikaschoten und Staudensellerie, wie auch immer sie die nennen.«
»Krautsalat mit Paprikaschoten hätte auch genügt. Was ist das denn - Törtchen mit Crème caramel?«
»Und dann hätten wir hier auch noch diese köstlichen Plätzchen.«
»Wofür willst du mich mästen?«
»In diesem Laden kann ich mich beim Bestellen einfach nicht zusammenreißen. Da sollte man mich ohne Aufsicht gar nicht reinlassen.«
Sie packten die Tüten aus und füllten den Inhalt der Plastikbehälter auf Teller und in Schüsseln um und trugen das Festmahl anschließend zu dem Tisch auf der Veranda.
»Es wundert mich, dass du nicht auch noch ein kleines Bierfass mitgebracht hast«, sagte sie.
»Du trinkst doch gar kein Bier.«
»Ich esse auch keine vier Kilo Feinkostsalate auf einmal, aber das hat dich genauso wenig vom Kauf abgehalten.«
»Ich habe Wein mitgebracht«, sagte er und deutete auf die Flasche, die er bei seinem Eintreffen auf den Tisch gestellt
hatte, bevor er in die Küche gegangen war. »Einen hervorragenden Meritage.«
»Ich hole Gläser.«
Nachdem er eingeschenkt hatte und bevor sie sich an den Tisch setzten, stießen sie mit den Weingläsern an, und ein Ton, der so lieblich klang wie der eines silbernen Glöckchens, hallte durch die Krone des Pfefferbaums, von der sie umgeben waren.
Sie nippten am Wein, küssten und setzten sich. Ryan fühlte sich in ihrer Gegenwart augenblicklich wohl und wusste, dass er sie liebte, ob diese Sam nun eine Lüge war oder nicht. Er würde sie selbst dann weiterhin lieben, wenn es noch eine andere Sam gab, die ein verschlagenes Miststück war.
»Wir haben uns eine ganze Woche nicht gesehen«, sagte sie.
Falls sich herausstellten sollte, dass ihm ein krankes Herz diagnostiziert worden war und er heute Abend feststellte, dass er trotz Ms Hyde in Ms Jekyll verliebt war, dann würde das die wohl ereignisreichste Woche seines bisherigen Lebens.
Ein Geflecht aus Schatten und spätem Sonnenschein schien sie beide zu umschlingen, als seien sie darin eingebettet. Gleichzeitig wirkte es, als sei dieses Gespinst aus Licht und Dunkel, aus Bekanntem und Unbekanntem, ein geheimnisvolles Gewebe aus Kett- und Schussfäden, aus dem ihre Zukunft hervorgehen und Gestalt annehmen würde, auch in sie eingebettet.
»Warum haben wir eine ganze Woche vergehen lassen?«, fragte sie verwundert.
Er sagte: »Mit dem Roman geht es gerade gut voran, nicht wahr?«
»Es läuft gut. Ich hatte mehrere gute Tage hintereinander. Woher weißt du das?«
Ryan hatte nicht die Absicht, ihr zu verraten, dass sie dann, wenn das Schreiben sie
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