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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Broemme
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Carina und Leonie und Marie und Xenia und all die anderen Mädchen aus dem Sportunterricht. Bei Frau Käsbaur stand Pierre Edinger, der wohl in einem anderen Turnhallenabschnitt Sportunterricht hätte geben sollen, und sie betrachteten sorgenvoll die Mädchen auf der Bank, die vollkommen ruhig waren. Hier und dort hörte man ein Schluchzen, aber niemand redete.
    Die Tür ging auf und nun kamen Sanitäter in die Halle mit einer Bahre und zwei Polizisten erschienen ebenfalls. Flora wollte sich auf die Sanitäter stürzen und sie fortjagen, sie sollten Yannik nicht anfassen. Nicht nur sein Gesicht, sein ganzer Körper, der unsichtbar hinter dem immer noch nicht ganz geschlossenen Tor lag, würde zerfallen in unzählige Puzzleteile und nie wieder würde es irgendwem gelingen, die Teile richtig zusammenzufügen, und dann wäre Yannik fort – für immer fort. Nie wieder würde er seine zärtlichen Hände nach ihr ausstrecken. Sie stürzte schon los, auf ihn zu, machte ein paar Schritte vorwärts, spürte, wie die Beine ihr versagten, und dann war da Edinger, der sie auffing und mit sanfter Gewalt zurück auf die Bank schob.
    »Schschsch«, machte er und an diesen warmen Laut klammerte sie sich fest und ließ sich wieder auf die Bank fallen und war froh, dass er sich einfach neben sie setzte und ihre Schulter streichelte, wieder und immer wieder.
    Quietschend wurde das Tor nach oben geschoben und ein Raunen ging durch die Körper um Flora herum. Sie dagegen starrte bewegungslos auf ihre Turnschuhe, die sich grellweiß vom dunklen Boden abhoben. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Sanitäter mit Geräten hantierten, Yannik vorsichtig auf eine Trage legten und wie einer der Polizisten mit Frau Käsbaur redete. Sie nickte viel zu hektisch, dann kam sie auf die Gruppe Schülerinnen zu.
    »Wir werden jetzt in eines der Klassenzimmer gehen. Der Herr Kommissar hier wird uns begleiten und ein wenig mit uns reden. Bitte zieht euch rasch um und lasst uns dann gemeinsam hinüber in die Schule gehen.« Sie klang wie die Automatenstimme einer Haltestellenansagerin. Flora hätte beinahe zu kichern angefangen. Aber sie hatte Sorgen, dass sie mit diesem Kichern nie wieder hätte aufhören können. Also stand sie einfach auf. Es war nun ganz leicht und sie verließ die Halle, die Augen starr auf die Tür gerichtet, sie ging in die Umkleide, zog sich aus, zog sich an, verstaute ihre Sachen und ging den langen düsteren Flur entlang, bis sie im Licht der weißkalten Morgensonne stand, und wartete, bis die ganze Gruppe beisammen war. Ein paar Männer in weißen Overalls mit großen schwarzen Taschen gingen an ihr vorbei in Richtung Halle und sie wusste aus den Kriminalfilmen, die sie gesehen hatte, dass sie zur Spurensicherung gehörten oder Rechtsmediziner waren, aber sie konnte sich nicht vorstellen, was diese Männer in der Turnhalle wollten. Hier draußen war es doch viel schöner. Sonnig. In Rio war es jetzt noch Nacht und trotzdem war es dort sicher viel lauter als hier, lebendiger. Sie sah sich plötzlich dort, wie sie mit ihren Freunden nach einer durchtanzten Nacht an den Strand gegangen war, wo sie im Takt der Wellen weitertanzten und tranken und lachten. Sie war verwirrt, dass um sie herum nichts, aber auch gar nichts an Rio erinnerte, sogar die Menschen kamen ihr völlig anders vor als die Menschen in Rio – als sei sie hier auf einem Planeten voller Außerirdischer.
    »Komm, Flora«, hörte sie Edinger ihren Namen rufen und bemerkte jetzt erst, dass sich der kleine, traurige Trupp bereits in Bewegung gesetzt hatte. Immerhin bewerkstelligten auch diese Wesen hier das Vorwärtskommen mithilfe zweier Beine.
    Dann war sie zu Hause. Man hatte ihre Mutter angerufen, die sie abgeholt hatte. Was im Klassenzimmer geschehen war, daran konnte sich Flora kaum erinnern. Der Polizist, einer, den sie nicht kannte, stand vorne und hatte zu ihnen gesprochen. Sie hatte die Worte »Absicht« und »Unfall« und »Untersuchung« herausgehört, auch »Befragung« war gefallen. Von »Schock« hatte er geredet und »verdauen«. Sie fand es absurd, ihm zuzuhören. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Carina neben ihr gesessen hatte und dass sie etwas gesagt hatte. Alle Augen hatten sich daraufhin auf Flora gerichtet, warum, hatte sie nicht mitbekommen. Sie hatte ein brasilianisches Kinderlied vor sich hin gesummt:
    Cinco patinhos foram passear
Além das montanhas
Para brincar
A mamãe gritou: Quá, quá, quá, quá
Mas só quatro patinhos voltaram de

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