Rachekuss
Schule kam, umso peinlicher bewusst wurde ihr, dass sie sich falsch verhalten hatte. Sie hatte eindeutig überreagiert gestern Abend. Sie musste sich unbedingt bei Yannik entschuldigen. Sie mussten offen und ehrlich miteinander reden. Und vielleicht musste sie sich wirklich anhören, was er über Carina zu sagen hatte. Carina. Dafür war jetzt kein Platz in ihrem Kopf. Sie schob die Gedanken beiseite, spürte, dass es falsch war, und schob noch ein wenig mehr. Sie konzentrierte sich auf die Frage, welche Kurse Yannik heute Morgen hatte. Wann sie ihn wo treffen könnte. Erst nach dem Sportunterricht, das war klar.
Mechanisch stellte sie ihr Fahrrad an der Turnhalle hinter der Schule ab. Es war noch ziemlich früh, sie war zeitig dran heute und jetzt knurrte ihr Magen. Sie ignorierte es.
Leonie lehnte blass wie eine Made neben der Tür zur Halle und tat die letzten Züge an einer Zigarette. Bevor Flora überlegen konnte, wohin sie hätte ausweichen können, hatte Leonie sie bereits entdeckt. Glücklicherweise grüßte sie nur knapp, trat die Zigarette aus und öffnete die Tür, die sie Flora aufhielt.
»Morgen«, sagte Flora mit kratziger Stimme. Warum hatte sie nicht einfach eine schwere Erkältung erfunden und war im Bett geblieben? Am Ende des langen Gangs sahen sie den Hausmeister, der gerade die letzte Kabine aufgeschlossen hatte. Sie würde sich jetzt einfach umziehen, in die Halle gehen und ein paar Runden laufen. Vielleicht käme dann ihr Kreislauf in Schwung. Schweigend zogen sich die Mädchen aus und würdigten sich keines Blickes. Leonie war schneller fertig und ging in Richtung Turnhalle. Vielleicht hatte sie einen ähnlichen Plan wie Flora.
Als sie umgezogen war, stieß Flora in der Tür mit Marie und Xenia zusammen, sie grüßte und ging schnell weiter. Die Glastür am Ende des Gangs öffnete sich und Flora erkannte Carinas Silhouette, von einem Strahlenkranz aus Licht gerahmt. Sie hatte ihre Freundin gestern Abend nicht mehr gesehen – wahrscheinlich war es Carina zu kalt geworden und sie war nach Hause gefahren, bevor Flora die Turnhalle überstürzt verlassen hatte. Flora spürte einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge, am liebsten hätte sie ausgespuckt. Sie schluckte stattdessen und betrat dann die Turnhalle. Sie tat, als hätte sie Carina nicht gesehen. Sie wollte als Erstes mit Yannik reden.
Das Bild, das sich ihr bot, war nicht einfach zu enträtseln. Leonie kniete inmitten der Halle auf dem Boden. Sie starrte unbeweglich in Richtung des Geräteraums. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie wirkte nicht so, als würde sie es bemerken. Flora folgte dem Blick ihrer Klassenkameradin und erstarrte ebenso wie diese. Sie hatte das Gefühl, nichts bewege sich mehr. Sie nicht, die Welt nicht, die Zeit nicht, nichts. Als blicke sie in das Angesicht des Todes.
Als Leonie ganz plötzlich einen gellenden Schrei ausstieß, konnte sie wieder einen Fuß vor den anderen setzen. Als werde sie von einer Schnur gezogen, bewegte sich ihr Körper in Richtung des Geräteraums. Das große, schwere Tor war nicht ganz geschlossen. Denn es lag etwas darunter.
Als Erstes fiel Flora auf, dass das goldblonde Haar an manchen Stellen dunkel verklebt war. Dann erst sah sie die Blutlache auf dem grün melierten Boden. Flora lief in einem viel zu großen Halbkreis um den Kopf herum, bis sie das Gesicht erkennen konnte. Sie wusste längst, wer hier lag. Doch als sie tatsächlich seine geschlossenen Augen sah, das schwärzlich rot verkrustete Ohr, seine spitze Nase, aus der das meiste Blut gekommen sein musste, und den halb geöffneten Mund, wusste sie nicht mehr, wie sie diese Einzelteile zu einem Ganzen zusammenfügen sollte, das sie kannte. Gekannt hatte. Die Tränen schossen ihr in die Augen bei dem Versuch, das Rätsel zu lösen. Es ging nicht, es war zum Verrücktwerden, es war übermenschlich anstrengend, unfassbar. Wieso hatte Yannik kein Gesicht mehr, obwohl er doch hier vor ihr lag? Sein Brustkorb hob und senkte sich, um Millimeter nur, aber sie hätte schwören können, er bewege sich. Sie musste verrückt sein. Endgültig. Vielleicht war es das, was sie vorhin fortgeschoben hatte: nicht die Erkenntnis, dass Carina nicht die war, für die Flora sie gehalten hatte, sondern dass doch sie selbst, Flora Harnasch, den Verstand verloren hatte. Und es wäre vollkommen sinnlos, danach zu suchen. Er war einfach fort. Nicht auffindbar.
Irgendwann merkte sie, dass sie auf einer Bank vor der Sprossenwand saß. Neben ihr
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