Rachekuss
lá
Das Lied von den fünf kleinen Entchen, die ihrer Mutter weglaufen; und als sie es im Auto wieder summte, da stürzten Tränen aus ihren Augen, so traurig war sie über den Verlust der kleinen Entlein. Sie war froh, als ihre Mutter weitersang und sie an die letzte Strophe erinnerte, in der alle fünf kleinen Entchen schließlich wieder nach Hause finden. Getröstet stieg sie aus. Ihre Mutter führte sie am Ellenbogen ins Haus, sie nahm ihr die Jacke ab, führte sie weiter ins Wohnzimmer, drückte sie auf die Couch, legte ihre Füße hoch, deckte sie mit einer Decke zu und verschwand in der Küche. Flora lag reglos da und starrte an die Decke, die so beruhigend weiß und glatt war. Kurze Zeit später fühlte sie einen heißen Becher Tee zwischen ihren Händen und sie sehnte sich danach, dass die Hitze ihre Fingerkuppen verbrennen würde. Etwas, was man fühlen konnte. Sie schlürfte den Tee, stellte den leeren Becher neben sich auf dem Teppich ab und rutschte tiefer. Tiefer und tiefer in einen Schlaf, der weit wie der Ozean war, ebenso tief und abgründig, und von dem sie nicht wusste, ob sie je wieder aus ihm zurückkehren wollte.
Mit einem Mal war sie hellwach. Es dämmerte bereits, sie lag noch immer auf dem Sofa, die Decke war hinuntergerutscht und sie fröstelte. Aus dem Keller hörte sie das gleichmäßige Klopfen der Werkzeuge ihrer Mutter. Sie setzte sich auf. Sie sah sich interessiert im Raum um, als habe sie ihn nie bewusst wahrgenommen. Die hellen Möbel. Der viele freie Platz dazwischen. Die Funktionalität aller Dinge hier. Die Sachlichkeit. Es half ihr, sich zu orientieren. Auch in ihrem Kopf aufzuräumen.
Yannik war tot. Sein Schädel war von einem der Tore des Geräteraums zertrümmert worden. Vom rechten. Die Polizei untersuchte, ob es ein Unfall gewesen war oder ob eine Tötungsabsicht dahintersteckte. Die Polizei würde Flora befragen. Spätestens morgen, da war sie sicher. Und Flora war die Letzte gewesen, die Yannik gesehen hatte. Lebend. Und sie hatte Streit mit ihm gehabt. Carina wusste davon. Carina würde nichts verraten. Würde sie nicht? Flora spürte die Unsicherheit in ihren Gedärmen zucken wie eine beginnende Magen-Darm-Grippe. Man würde sie verdächtigen. Aber war Yannik nicht Opfer eines Unfalls geworden? Doch wie hätte der Unfall passieren sollen, wo er doch ganz alleine in der Halle gewesen war, nachdem sie hinausgestürmt war? Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ihm das Tor einfach auf den Kopf hatte fallen können. Das war doch gar nicht möglich. Und ebendeshalb konnte nur sie es gewesen sein, die ihn zu Fall gebracht hatte. Und einfach liegen gelassen. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass das klappernde Geräusch von ihren Zähnen kam. Sie stand auf, wickelte sich in die Wolldecke und holte sich das Telefon. Sie wählte Carinas Handynummer, erwischte aber nur die Mailbox. Es half nichts, sie musste zu Carina, musste mit ihr reden. Vielleicht konnte ihr Carina helfen, sich zu erinnern, worum es heute Morgen im Klassenzimmer gegangen war. Sie konnte sich nur sehr undeutlich erinnern, was der Kommissar gesagt hatte. Warum alle sie so angestarrt hatten.
Sie warf die Decke aufs Sofa, zog ihren dicken Wollmantel an, schlüpfte in die gefütterten Stiefel und machte sich auf den Weg. Sie ignorierte das frisch weiß gestrichene Garagentor, das so tat, als wären alle Spuren beseitigt. Raschen Schrittes benötigte sie keine fünf Minuten bis zu Carina. Noch immer gelang es ihr nicht, in der verwirrenden Anzahl von Fenstern dasjenige zu erkennen, hinter dem Carina wohnte. Sie drückte lange auf die Klingel, bis endlich der Summer ertönte. Sie nahm die Treppe, der Aufzug würde sie heute zerquetschen, und atemlos kam sie oben an.
Carina stand in der Tür, die diesmal weit geöffnet war. Carina stützte sich mit den ausgestreckten Armen an den Türstöcken ab. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Regung, als Flora auf sie zukam.
»Kann ich reinkommen?«, fragte Flora mit einer erbarmungswürdig piepsigen Stimme, die sie selbst erschreckte.
Carina schüttelte den Kopf. Die Fransen ihres dünnen Haars wippten leicht, die rosa Strähne fiel ihr vors Auge. Sie pustete sie fort. »Ich lasse keine Mörderin in meine Wohnung.« Wie ein Messer durchschnitten die Worte die Luft.
Flora zuckte zurück. »Bist du verrückt? Ich bin doch keine Mörderin!«
»Nein?« Wie viel Kälte, wie viel Verachtung lag in dieser kleinen Buchstabenreihung.
»Du hattest Streit mit ihm, du warst
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