Rachesommer
Pulaski wandte sich an die Assistentin. »Hanna, klopfen Sie bitte an, wenn Sie mit dem Kaffee da sind.«
Pulaski schloss die Tür vor ihren Nasen. Einige Sekunden lang hörte er ihr Gemurmel. Danach holte er das Handy aus der Sakkotasche und wählte die Nummer seines Vorgesetzten. Während er dem Freizeichen lauschte, kramte er die zerknautschte Zigarettenpackung aus der Tasche. Nur noch drei Glimmstängel. Wie sollte er den Tag bloß überstehen?
Er brauchte so rasch wie möglich einen Gerichtsmediziner, der die Leiche vor Ort untersuchte und dann in die Pathologie brachte. Auf den Totenschein von diesem Doktor Wolf konnten sie verzichten. Hier war eine richtige Autopsie notwendig. Außerdem benötigte er ein graphologisches Gutachten, ob der Abschiedsbrief und die Einträge im Tagebuch tatsächlich von derselben Person stammten. Vielleicht hatte er sich ja geirrt.
Immer noch das Freizeichen! Ging denn im Büro keiner ran?
Außerdem musste er seine Tochter anrufen, um ihr zu sagen, dass er nicht wie sonst am Mittag heimkommen würde. Vermutlich auch abends nicht, sondern erst spät in der Nacht… wenn überhaupt. Das war kein Routinefall, der sich mit einer gewöhnlichen Aktennotiz erledigen ließ. Kein bisschen Bürokram wie sonst. Denn Natascha besaß eine Eigenschaft, die ihr Mörder übersehen hatte. Und beinahe wäre sie ihm auch nicht aufgefallen. Ihr linker Oberarm war kräftiger als der rechte. Dazu kam, dass sich die Tinte an den Fingerkuppen der linken Hand befand. Sie war Linkshänderin.
Endlich hob jemand ab. Horst Fux, der Dezernatsleiter. Pulaski ließ seinen Boss gar nicht erst zu Wort kommen. »Bei der Kleinen in Markkleeberg handelt es sich nicht um Selbstmord.«
»Was macht dich so sicher?«
Pulaski starrte auf die Einstichstelle der Spritze. »Eine Linkshänderin hätte sich die Spritze niemals in die linke Armbeuge gesetzt.«
11
In all den Jahren als Anwältin hatte Evelyn Meyers noch nie ein so verbittertes Gesicht gesehen wie das der Witwe Kieslinger, nachdem sie der Frau erklärt hatte, wie ihr Mann an jenem Abend vor dem Eingang des Entrez-Nous gestorben war.
Der Kellner des Lokals in der Wiener Innenstadt brachte soeben die Getränke. Allerdings würde es zu dem geplanten Mittagessen nicht mehr kommen. Die Witwe ignorierte ihr Weinglas, sah zunächst ihren Anwalt an, der einige Notizen in sein Buch kritzelte, dann fixierte sie Evelyn wieder mit diesem Blick, für den ihr jede Behörde einen Waffenschein ausgestellt hätte.
»Wollen Sie Ihre unverschämte Behauptung bitte wiederholen, junge Frau, bevor mein Anwalt Sie wegen Verleumdung fertigmacht?«
Es war so typisch. Immer gleich mit einer Klage drohen, dachte Evelyn. Noch dazu passte die eisige Stimme zu den gefühlskalten Augen dieser Frau. Doch Evelyn ließ sich davon nicht irritieren.
»Selbstverständlich.« Evelyn beugte sich vor und sprach langsam und betont leise. »Ihr Gatte war bloß eine Stunde auf der Benefizveranstaltung des Sankt-Anna-Kinderspitals zu Gunsten krebskranker Kinder. Anschließend fuhr er mit seinem Porsche zum Entrez-Nous, einem Nachtclub, wo er sich wieder einmal betrank, diesmal in Begleitung einer jungen Dame, und danach zu seinem Wagen stolperte.«
Die Witwe - mit schmaler Lesebrille in den aufgedonnerten Haaren und Goldklunkern an jeder Hand, die mehr wert waren als Evelyns Wagen - fixierte sie mit eiskaltem Blick.
»Es gibt übrigens Zeugen, die das bestätigen können«, fügte Evelyn wie nebenbei hinzu.
Die Witwe lächelte gekünstelt. Der viel zu dick aufgetragene Lippenstift klebte auf ihren falschen Zähnen - eine Unachtsamkeit, die Evelyn zutiefst verabscheute.
»Als Ihr Gatte vor der Baustelle seinen Autoschlüssel aus der Tasche kramte«, fuhr sie fort, »fiel er ihm aus der Hand und kullerte in den offenen Schacht. Er stieg über die Absperrung, kniete sich hin, kroch auf allen vieren zu dem Schacht, beugte sich hinunter, um den Schlüssel rauszufischen, verlor das Gleichgewicht und rutschte in die Röhre, wo er steckenblieb und ertrank…«
Evelyn hatte richtig getippt. An dem Gesichtsausdruck der Witwe erkannte sie, dass diese weder von dem Porsche noch vom Nachtleben ihres Mannes gewusst hatte. Verblüffenderweise schien sie das aber ebenso wenig zu interessieren wie die Todesursache ihres Gatten. Die Gefahr, ein paar Millionen Schmerzensgeld zu verlieren, war zu groß.
Während die Witwe Kieslinger mit offenem Mund da saß und vermutlich im Geiste ihr Geld
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