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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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stemmte sich für einen Augenblick im Sitz hoch und schlüpfte mit einem Bein in seinen Fußbereich. »Ich sagte schneller!« Sie drückte ihren Stöckelschuh auf seinen Fuß und trat das Pedal bis zur Bodenplatte durch. Der Motor heulte auf. Hockinson fuhr der Schmerz durch den Fuß. Er riss das Lenkrad herum, und der Wagen geriet für eine Sekunde ins Schleudern. Als er versuchte, seinen Fuß vom Gaspedal zu ziehen, stemmte sie sich mit dem Rücken gegen den Sitz und drückte mit aller Kraft auf das Pedal.
    »Wer sind Sie, und was zum Teufel wollen Sie von mir?«, presste er hervor. Erst jetzt bemerkte er, dass er sie nicht mehr duzte.
    »Eddie, Eddie, Eddie«, seufzte sie. »So ein schlechtes Gedächtnis?«
    Während seine Hände das Lenkrad umklammerten, wickelte sie den Schal um seinen Hals und warf das Ende aus dem Auto. »Damit dir nicht kalt ist, mein Süßer!«
    Im Rückspiegel sah Hockinson, wie der lange Schal hinter dem Wagen herumwirbelte. Die Perlen schlugen gegen den Lack und wurden vom Wind immer wieder rauf und runter gerissen.
    »Die Fahrt ist zu Ende, ich halte an!«, brüllte Hockinson.
    »Lisa will nicht anhalten.« Erneut warf sie die Arme in die Luft.
    Lisa? Woher kannte er diesen Namen? Als er aufsah, verriss er das Lenkrad erneut. Die Kurve vor dem Leuchtturm kam rasch näher. Er spähte auf den Tachometer. Die Nadel zitterte bei neunzig km/h.
    Hockinson versuchte, die Frau mit dem Ellenbogen auf ihren Sitz zu drängen, doch sie war ungewöhnlich kräftig. Ihr Stöckelschuhabsatz bohrte sich in seinen Fuß. »Lisa, wir werden sterben!«
    »Du wirst sterben!«
    Fünfundneunzig km/h.
    Im Seitenspiegel sah Hockinson, wie der Schal den Asphalt berührte und vom Wind wieder hochgewirbelt wurde. Wenn sich der Stoff im hinteren Fahrwerk verhedderte, würde ihn der Schal strangulieren, bevor er Piep sagen konnte. Wollte die Kleine mit ihm sterben? War sie so verrückt? Er versuchte, sich den Schal vom Hals zu zerren, umklammerte das Lenkrad jedoch rasch wieder mit beiden Händen, als der Wagen über eine Bodenwelle sprang.
    »Was wollen Sie von mir?«
    »Wie lautet der letzte durchgestrichene Name auf der Passagierliste der Friedberg?«
    Die Friedberg! Plötzlich wusste er, woher er Lisa kannte. »Mein Gott - das ist zehn Jahre her!«
    »Der letzte durchgestrichene Name!«, drängte sie.
    Hundertzehn km/h.
    Er würde die Kurve niemals schaffen.
    »Ich weiß es nicht!«
    In diesem Moment sprang der Wagen über die letzte Bodenwelle und raste in die steil abfallende Kurve, die zum Leuchtturm führte.
    »Ich weiß es nicht…«, brüllte er.
    Er wusste es wirklich nicht.
    Die Reifen quietschten. Die Fliehkraft hob Hockinson aus dem Sitz.
    Über ihren Köpfen kreischten die Möwen.
     
    Drei Tage später …
     
    Montag, 15. September
     
    1
     
    Stimmengemurmel, schrilles Gelächter und das Knallen der Sektkorken drangen durch die dünne Milchglastür in Evelyn Meyers’ Büro. Jedes Mal, wenn jemand durch den Gang marschierte, vibrierte die Scheibe. Mussten die so toben? Bei dem Lärm konnte sich niemand konzentrieren.
    Eigentlich hatte Evelyn die Kanzlei schon längst verlassen wollen. Es war acht Uhr abends. Ihre beiden Katzen - Bonnie und Clyde - mussten gefüttert werden, und ihr Magen begann auch schon zu knurren. Im Grunde brauchte sie nur ins Foyer vorzugehen. Im Empfangsraum der Wiener Rechtsanwaltskanzlei standen die Cocktails zu Dutzenden auf den Tabletts, und im großen Besprechungsraum und den Besucherzimmern türmten sich Kaviar-, Lachs- und Thunfischbrötchen auf den Tischen. Aber dann hätte sie sich den Klienten und befreundeten Anwälten aussetzen müssen - und darauf konnte sie verzichten. Smalltalk war noch nie ihre Stärke gewesen.
    Sie schob die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch auseinander und betrachtete die verschiedenen Gutachten, Polizeiprotokolle, Zeugeneinvernahmen und Fotos der Kripo und der Feuerwehr. Daneben lag die Mitschrift des ersten außergerichtlichen Vergleichsgesprächs, das sie mit dem Anwalt der Klägerin in einem Restaurant geführt hatte. Die Gegenseite gab sich nicht mit ein paar Tausend Euro zufrieden. Dieser verdammte Kanaldeckel-Fall! Sie wollte höchstens noch eine Stunde daran arbeiten. Natürlich konnte sie sich mit sämtlichen Unterlagen durch die Hintertür davonstehlen und zu Hause weitermachen. In Ruhe weitermachen! Denn bis auf Bonnie und Clyde gab es in ihrer Wohnung niemanden, der sie ablenken konnte. Aber sie kannte sich. Es würde so enden,

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