Rachesommer
davonschwimmen sah, blieb ihr Anwalt gefasst. Wie immer bewahrte Doktor Jordan sein Pokerface, auch wenn er wusste, dass er den Fall verlieren würde. »Wie wollen Sie das vor Gericht beweisen, meine liebe Kollegin?«
Meine liebe Kollegin! Wie lächerlich Evelyn es fand, in diesem süffisanten Ton angesprochen zu werden, als hätte sie soeben ihr erstes Jahr als Konzipientin hinter sich. Dabei brauchte sie niemandem etwas zu beweisen.
Sie legte den Funkschlüssel neben Frau Kieslingers Weinglas. »Der steckte in der Seitenröhre des Kanals. Viel Spaß mit dem neuen Porsche Ihres Mannes.«
Die Witwe schob sich die Lesebrille auf die Nase und starrte auf den Gegenstand. »Der Wagen gehört mir nicht.«
»Richtig«, bestätigte Evelyn. »Ihnen nicht, aber Ihrem Mann.« Sie reichte der Witwe eine Kopie der Zulassungsbestätigung vom Verkehrsamt. Dann erinnerte sie sich an die Kondome im Auto. »Werfen Sie bitte einen Blick ins Handschuhfach.«
Die Witwe wollte etwas darauf erwidern, doch Doktor Jordan kam ihr zuvor. »Einen Moment …« Aufmerksam betrachtete er die Kopie. Schließlich warf er sein Notizbuch in den Aktenkoffer, ließ ihn zuschnappen und erhob sich vom Tisch. »Wir ziehen die Klage gegen das Bauunternehmen zurück«, sagte er, ohne sich mit seiner Mandantin zu beratschlagen.
Jetzt hatte sie ihn! Er zog die Klage zurück und den Schwanz ein, wie es im Anwaltsjargon hieß - die klügste Entscheidung, die er in dieser Situation treffen konnte.
Die Witwe brachte kein Wort heraus. Es gab nur Ärger, wenn ein Rechtsanwalt seine Klientin zu einem Treffen mit der gegnerischen Partei mitnahm - für gewöhnlich gingen die Emotionen hoch, und darauf konnte Evelyn gern verzichten.
»Bis zum nächsten Mal, Herr Kollege.« Sie schüttelte Doktor Jordan die Hand und nickte der Witwe zu.
Als Evelyn das Lokal verließ, tönte hinter ihr Frau Kieslingers Gezeter. Doktor Jordan erläuterte seiner Mandantin wohl gerade die Zusammenhänge, die sie bestimmt nicht begriffen hatte. Dabei konnte sie von Glück reden, dass die Sache so glimpflich für sie ausgegangen war.
Das Gericht hätte die Klage bereits am ersten Verhandlungstag abgewiesen, und sie hätte keinen Cent erhalten und wäre bestenfalls auf den Anwalts- und Gerichtskosten sitzengeblieben. Schlimmstenfalls hätte die Presse ihren verstorbenen Gatten posthum durch den Dreck gezogen. Was für eine Blamage! Evelyn wusste nur zu gut, wie stark Tageszeitungen übertrieben. Renommierter Kinderarzt alkoholisiert nach Bordellbesuch im Abwasserschacht ertrunken …
Damit war die Sache für Evelyn vom Tisch.
Die Mittagssonne schien herrlich warm auf die Pflastersteine, und vom Stephansplatz hörte Evelyn das Wiehern und Hufegeklapper der Pferde, welche die Fiaker mit den Touristen durch die Stadt zogen.
Während sie zu ihrem Wagen ging, rief sie mit dem Handy Onkel Jan an, den Freund ihres Vaters. Sie hatte den kleinen Kanalbauunternehmer soeben vor dem Ruin bewahrt.
Als Evelyn die Kanzlei betrat, fing Krager sie im Foyer ab. Er sah auf die Uhr. »Wie ist es gelaufen?«
Sie kannte diesen Gesichtsausdruck - er bedeutete, sie hatte höchstens drei Minuten. Kragers nächster Termin wartete bereits.
»Ich habe Doktor Jordan den Sachverhalt erklärt.« Evelyn erzählte von ihrem Treffen.
Als sie fertig war, schmunzelte Krager. »Tod durch eigenes fahrlässiges Handeln, kein Fremdverschulden. Großartig, Evelyn. Ich hätte es nicht besser gekonnt.« Er legte ihr vertraulich die Hand auf die Schulter.
Sie zuckte zusammen. Er wusste doch, dass sie das nicht leiden konnte, und trotzdem tat er es immer wieder! Diesmal sagte sie nichts, aber vermutlich bemerkte er ihren Blick, da er die Hand rasch zurückzog.
»Reden Sie mit unserem Sekretariat - wir brummen der Kanzlei Jordan ein saftiges Honorar mit all unseren Kosten auf.« Er wandte sich um und eilte zu seinem nächsten Termin. »Morgen besprechen wir Ihren neuen Fall.« Dann war er verschwunden.
Der nächste Fall! Ich kann es kaum erwarten, dachte Evelyn sarkastisch. Krager zog nur sogenannte lukrative Großkunden als Klienten an Land, bei denen viel Geld zu holen war. An Peanuts war er nicht interessiert, daher ließ er die wirklich interessanten Fälle links liegen. Aber sie hatte es satt, die kleinen Privatkläger vor Gericht zu zerschmettern, damit die Konzerne weiter fröhlich Geld scheffeln konnten. Am liebsten wollte sie Strafrechtsfälle übernehmen - doch ihre innere Stimme sagte ihr, dass die Zeit
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