Rachesommer
noch nicht reif dafür war.
Evelyn betrat ihr Büro. Die Kollegen hatten ihr eine Sektflasche und ein Tablett mit übrig gebliebenen Snacks der 25-Jahre-Feier auf den Tisch gestellt. Sie nahm die Alufolie ab. Kaviar und Lachs! Normalerweise liebte sie Fisch, doch im Moment hatte sie keinen Appetit. Wenigstens Bonnie und Clyde würden sich darüber freuen.
Sie warf ihren Blazer über die Sessellehne, schlüpfte aus den Stöckelschuhen und ließ sich auf den Stuhl fallen. Dann öffnete sie die Sektflasche und füllte ein Glas.
»Auf den gewonnenen Fall.« Sie prostete sich selbst zu. Auf dem Schreibtisch standen ein Foto ihrer Eltern - eine der letzten Aufnahmen, bevor das Unglück passiert war - und eines von Bonnie und Clyde, die, erst zehn Wochen alt, nebeneinander im Einkaufskorb lagen. Das war ihre Familie. Zwei grau getigerte Katzen. Es gab keine anderen privaten Sachen in ihrem Büro, bis auf die Kakteen auf dem Fensterbrett - ebenso stachelig wie ihr Gemüt, wie es ein Kollege einmal formuliert hatte. Andere nannten sie Igel, weil sie sich einrollen und die Stacheln ausfahren konnte - was auch nicht wesentlich charmanter klang.
Ihre Schränke waren voll mit Ordnern und Gesetzestexten, und auf dem Schreibtisch türmten sich die Unterlagen des Kanaldeckel-Falls: Dutzende Protokolle, Fotos und Gedächtnisnotizen.
Evelyn begann, die Papiere zu ordnen. Als sie die Farbfotos von der Kamera des Geldautomaten in der Hand hielt, überkam sie das gleiche Dejá-vu-Gefühl wie vor wenigen Tagen im Landesgericht. Hatten das merkwürdige Gefühl und ihr Bauchkribbeln mit diesen Fotos zu tun? Sie starrte auf die Bilder. Die Aufnahmen der 24-Stunden-Überwachungskamera wollten ihr etwas sagen. Aber was?
Evelyn betrachtete die Fotoserie genauer. Sie stammte von jenem Abend, als Kieslinger im Schacht ertrunken war. Die Baustelle war nur am linken Rand zu sehen. Im Grunde genommen waren die Bilder uninteressant, denn der offene Kanaleingang lag außerhalb des Kamerablickfeldes. Aber es waren die einzigen Aufnahmen, die es von diesem Ort zur Unfallzeit gab, und Patrick, ein befreundeter Privatdetektiv, hatte sie ihr besorgt. Natürlich lagen sie auch der Kripo vor - die hatte sie von der EDV-Abteilung der Bankfiliale zuerst erhalten. Doch die Spurensicherung hatte ebenso wenig wie Evelyn etwas damit anfangen können.
Sie trank einen Schluck Sekt und studierte die Fotos. Der aufgerissene Asphalt, die Eimer und Spaten, die Holzbalken und Eisengestänge, die Mischmaschine, im Hintergrund die Leuchtreklame des Entrez-Nous. Der Eingang lag außerhalb des Blickfeldes, andernfalls wäre Kieslinger vielleicht zu erkennen gewesen, wie er die Bar verlassen hatte.
Auf den nächsten Bildern stand ein Mann vor der Linse, hob Bargeld ab und verschwand wieder. Wenn man die Fotos wie bei einem Daumenkino durch die Finger laufen ließ, sah man sogar einen Film. Dann war plötzlich ein Mädchen zu erkennen: dünn, etwa zwanzig Jahre alt, in einem leichten Sommerkleid. Das Mädchen! Evelyn setzte sich auf. Es stand im Laternenlicht und blickte die Straße hinunter. Evelyns Herzschlag beschleunigte sich. Sie kramte eine Lupe aus der Schublade. Bei der nächsten Aufnahme stand die Frau näher vor der Kamera, danach war sie verschwunden. Die ganze Zeit hatte sich Evelyn auf die Gegebenheiten der Baustelle konzentriert und sich nicht um die junge Frau gekümmert. War das die Blondine, mit der Kieslinger in der Bar getrunken hatte?
Evelyn fuhr ihren PC hoch, klickte das Verzeichnis mit den erhaltenen E-Mails an und öffnete die von Patrick. Er hatte ihr die Fotos als Attachement geschickt. Sie vergrößerte das entsprechende Bild, zoomte den Ausschnitt mit dem Mädchen heran, hellte den Hintergrund auf und verschärfte die Konturen.
Das Mädchen war tatsächlich kaum älter als zwanzig, sah blass und schwächlich aus und trug ein blaues Kleid mit Spaghettiträgern. Das lange blonde Haar wirkte ebenso dünn und zerbrechlich wie die gesamte Erscheinung.
Trotz der spätsommerlichen Temperaturen rieselte Evelyn ein Schauer über den Rücken. Endlich hatte sie die Ursache ihres Dejá-vu-Gefühls gefunden.
Sie kannte das Mädchen. Doch woher?
12
Seit Stunden saß Evelyn in ihrem Büro und betrachtete das Foto des Mädchens im Spaghettiträgerkleid. Der Farbausdruck war zwar unscharf, doch was darauf zu sehen war, genügte ihr. Sie wusste, sie hatte die junge Frau schon einmal gesehen, doch je mehr sie sich das Gehirn zermarterte, desto
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