Rachesommer
Während Pulaski einige Scherben in eine Plastiktüte packte, flüsterten Wolf und Steidl hinter seinem Rücken. Ziemlich spät, um sich abzusprechen, dachte er.
»Keine der Nachtschwestern hat etwas gehört«, knurrte Wolf schließlich.
Kein Wunder. Pulaski betrachtete das blaue Stoffknäuel, das unter einer Stellage lag. Das fehlende Handtuch aus Nataschas Zimmer. »Jemand hat das Splittern der Scheibe mit dem Tuch gedämpft und die Scherben vorsichtig aus dem Rahmen entfernt«, erklärte er.
»Jemand?«, echote Wolf. »Wer außer Natascha sollte sich Zutritt zu den Medikamenten verschafft haben?«
»Sagen Sie es mir!« Pulaski konnte den zynischen Ton nicht unterdrücken. In dieser Anstalt waren wohl alle überzeugt, dass die Kleine sich das Leben genommen hatte. Allerdings ließ sich eine labile Person auch in den Selbstmord treiben.
Wolf kniff die Augenbrauen zusammen. »Steidl sagte mir, Sie hätten einen Abschiedsbrief gefunden. Was steht darin?«
»Das würde wohl jeden hier brennend interessieren«, antwortete Pulaski knapp. »Aber er ist ein Beweismittel. Den kann ich Ihnen nicht zeigen.«
Die Abstände werden kürzer. Immer wieder kommen sie.
Wer, Natascha? Die Ärzte?
In der Dunkelheit.
Diese Schmerzen!
Pulaski dachte an den Brief - und an die Stelle, wo Natascha ihn versteckt hatte. Diese Schmerzen! Die Worte in dem Schreiben waren ein gefundenes Fressen für jeden Gerichtspsychiater. Nachdem der Staatsanwalt den Brief gelesen hatte, würde er wohl kaum zögern, einer Obduktion zuzustimmen. Wie lange war es her, dass Pulaski die letzte Obduktion beantragt hatte? Fünf Jahre? O Gott, arbeitete er tatsächlich schon so lange beim Kriminaldauerdienst, dass ihm der Gedanke an eine Autopsie wie eine Ewigkeit vorkam?
Diese Schmerzen!
Er musste herausfinden, ob Spuren einer Vergewaltigung vorlagen oder ob Natascha sogar schwanger gewesen war. Allerdings stimmte hier etwas nicht. In ihrem Tagebuch gab es weder Hinweise noch Andeutungen auf einen sexuellen Missbrauch. Nur in ihrem Abschiedsbrief - der zweifellos aus ihrer Hand stammte.
Aber warum sollte Natascha erst jetzt darüber schreiben? Wenige Stunden vor ihrem Tod? Die blaue Tinte an den Fingerkuppen. Warum erst jetzt? Die Spritze. Zweimal aufgezogen. Intravenös, in die Armbeuge. Irgendetwas war hier faul.
Plötzlich wusste er es.
Pulaski schob Wolf zur Seite, stürzte aus der Kammer und lief zurück zu den Schlafräumen.
9
Keuchend riss Pulaski die Plombe von der Tür und hastete in Nataschas Zimmer. Er rollte den rechten Ärmel ihres Kleides bis zur Schulter auf und betrachtete die Tote. Natürlich. Das war’s. Verdammt, wie hatte er das übersehen können? Die blaue Tinte auf den Fingerkuppen. Der Einstich in die Armbeuge.
Die blonde Chefarzt-Assistentin mit der Hornbrille, die ihn heute Morgen empfangen hatte, kam an der Tür vorbei und starrte ins Zimmer. Steidl und Wolf bauten sich hinter ihr auf und schoben sie zur Seite.
Steidl betastete die zerrissene Plombe. »Ich dachte, Sie wären fertig.«
»Dachte ich auch.« Pulaski wandte sich an die Frau. »Hanna, richtig? Bringen Sie mir bitte noch einen starken Kaffee. Schwarz. Am besten eine ganze Kanne.«
Direktor Wolf wollte zu Pulaski ins Zimmer treten, doch der wehrte ab. »Niemand betritt den Raum, niemand fasst etwas an. Das Gleiche gilt für die Medikamentenkammer - und zwar so lange, bis die Kollegen von der Spurensicherung eingetroffen sind und ihre Arbeit beendet haben. In der Zwischenzeit brauche ich sämtliche Bänder der letzten vierundzwanzig Stunden von den Überwachungskameras an den Toren.«
Direktor Wolf wollte etwas erwidern, doch Pulaski schnitt ihm das Wort ab. »Außerdem brauche ich eine komplette Namensliste aller Ärzte, Therapeuten, Pfleger, Patienten und des gesamten Hauspersonals sowie die vollständige Krankenakte von Natascha Sommer …«
»Aber …«
»… und kommen Sie mir nicht mit ärztlicher Schweigepflicht.
10
Der Staatsanwalt besorgt mir binnen vierundzwanzig Stunden einen richterlichen Beschluss für eine Durchsuchung.«
Hanna und Chefarzt Steidl starrten ihn mit offenem Mund an. Nur Direktor Wolf blieb gefasst. Seine Kiefer mahlten. Irgendetwas ging in seinem Kopf vor.
»Und ich möchte mit Nataschas Therapeutin, dieser Sonja, sprechen«, fügte Pulaski hinzu.
»Wie stellen Sie sich das vor? Frau Doktor Willhalm ist heute nicht da.«
»Ist sie im Ausland?«
Wolf schüttelte den Kopf.
»Dann holen Sie sie her!«
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