Rachesommer
sobald Sie nach Wien kommen.«
»Abgemacht, ich bin schon neugierig.«
»Ich wünsche Ihnen alles Gute.« Sie verabschiedeten sich, und Evelyn legte auf. Ein Gefühl der Wehmut überkam sie, als sie an die Kanzlei dachte. Wie lange hatte sie hier gearbeitet? Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie bereits während des Studiums jedes Jahr ihre Ferialpraxis hier absolviert. Elf Jahre in diesen Räumen waren eine verdammt lange Zeit. Anfangs war auch Patrick noch bei seinem Vater beschäftigt gewesen, später hatte Holobeck sie unter seine Fittiche genommen. Während dieser Zeit erlebte sie alle Höhen und Tiefen einer Rechtsanwaltskanzlei mit. Doch elf Jahre waren mehr als genug. Sie legte den Schlüssel zu ihrem Büro auf den leeren Schreibtisch und erhob sich.
Hinter der Milchglastür zeichnete sich ein Schatten ab. Die Klinke wurde niedergedrückt. Krager trat ein. Der Pitbull machte seinem Spitznamen alle Ehre. Wortlos und mit zusammengekniffenen Augen sah er sich in ihrem Büro um. In der Hand hielt er das gefaltete Kündigungsschreiben, mit dem er nervös gegen seinen Oberschenkel trommelte.
»So schnell ist es also nun gegangen«, knurrte er. »Sie hatten Recht mit Ihrer Vermutung über Peter Holobeck, und ich habe Ihnen nicht geglaubt. Das tut mir leid.«
Evelyn hob die Augenbrauen. Sie hätte nicht gedacht, diese Worte jemals aus seinem Mund zu hören.
»Ist das der Grund, weshalb Sie mich verlassen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Ihren Ratschlag beherzigt.«
Er blickte sie fragend an.
»Meine Vergangenheit aufgearbeitet. Mittlerweile weiß ich, was ich will.«
»Und was wollen Sie?«
»Sie haben mir immer davon abgeraten, aber es ist meine Berufung. Ich mache mich als Verteidigerin für Strafrechtsfälle selbständig.« Sie merkte, wie ein klein wenig Stolz in ihrer Stimme mitschwang.
»Womit denn?«, fragte Krager zähneknirschend.
Sie hatte diese Frage vermutet.
»Demnächst werde ich meinen ersten Fall übernehmen«, antwortete sie. »Sybil Woska ist einundzwanzig Jahre alt und österreichische Staatsbürgerin. Sie wird innerhalb der nächsten Wochen von Deutschland ausgeliefert und des Mordes an zehn Männern beschuldigt.« Sie machte eine Pause. »Ich verteidige sie.«
»Ist das Mädchen vermögend?«
Die Frage sah ihm ähnlich. »Wohl kaum. Aber wir werden genug Medienpräsenz und Sponsoren finden, um die Pflichtverteidigung zu finanzieren.«
Krager nickte langsam. »Ein starkes Programm für den Anfang. Falls Sie meine Hilfe benötigen …«Er machte eine Handbewegung, die wohl bedeuten sollte, dass er jederzeit für sie da war.
»Danke.«
»Und …« Krager zögerte. »Richten Sie meinem Sohn schöne Grüße aus.« Er reichte ihr die Hand.
Sie sah ihn erstaunt an. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Mache ich.«
Draußen wartete Patrick auf sie. Sein linkes Hosenbein war an der Seite aufgeschnitten. Der Spaltgips reichte bis zur Hüfte. Er lehnte auf seinen Krücken schief in einer Toreinfahrt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Irgendwie wirkte er wie eine desolate Ausgabe von James Dean.
Sie lief zu ihm hinüber.
»Hallo, Spitzmausigel.«
»Hallo, mein Großer.«
»Wie ist es gelaufen?«
»Einen schönen Gruß von deinem alten Herren.«
»Das meinst du nicht ernst, oder?«
»Doch - irgendwie habe ich den Eindruck, dass ihn die ganze Angelegenheit geläutert hat. Vielleicht lädt er dich ja eines Tages zum Mittagessen ein.«
»Ein Essen mit Staranwalt Krager? Nein, danke. Apropos, da fällt mir ein Witz ein.«
»Schieß los!« Sie konnte es kaum erwarten.
»Schieß los?«, wiederholte er verblüfft. »Sonst willst du meine Witze doch nie hören.«
»Diesmal schon. Los, erzähl!«
Sie gingen die Straße zum Park hinunter, wo Evelyns Wagen stand.
»Also, eine Jacht ist auf hoher See mitten im Haigebiet gesunken. Alle Passagiere wurden von den Haien gefressen, bis auf einen, der ein Anwalt war. Warum?«
»Weil er schneller schwimmen konnte?«
»Weil Haie sich nicht an Artgenossen vergreifen!« Er lachte laut auf.
Evelyn schmunzelte. »Was machst du eigentlich heute Abend?«
»Soll ich dich auf deiner Joggingrunde durch den Stadtpark begleiten?«
»Nein, ich meine es ernst.«
»Mein Bein hochlagern und fernsehen. Warum?«
»Wenn ich dich mit dem Wagen abhole, schaffst du es ins Marriot zu einem Candle-Light-Dinner?«
»Sag bloß, du …?« Sein Mund klappte herunter. »Aber so schnell werden wir keinen Tisch bekommen.«
Schmunzelnd dachte sie an
Weitere Kostenlose Bücher