Rachesommer
Holobecks Nummer. Der Anruf wurde von seinem Büro zur Empfangsdame weitergeleitet, die ihr mitteilte, dass sich Holobeck seit gestern im Urlaub befinde und am Abend nur wegen der 25-Jahre-Feier in der Kanzlei erschienen sei.
Evelyn rief Holobeck unter dessen privater Handynummer an. Er besaß ein Penthouse im 23. Stock des futuristischen Wohnparks Alt-Erlaa, einem Monsterbau mit riesigen Balkonen, Loggias und Terrassen. Bestimmt verbrachte Holobeck die Urlaubstage zu Hause. Er verreiste nie, bis auf gelegentliche Spritztouren nach Thailand.
Nach dem fünften Klingeln hob Holobeck ab. Im Hintergrund lief das Radio. »Doktor Holobeck, hier spricht Evelyn Meyers.«
»Ja …?«
Evelyn stutzte. Wo blieb das übliche Hallo-meine-Kaktusblüte-was-kann-ich-für-Sie-tun?
»Ich wollte mich mit Ihnen kurz über den Airbag-Fall unterhalten. Die Berchtesgadener Alpen, Sie erinnern sich?«
»Natürlich, was wollen Sie wissen?«
So kurz angebunden? Kein Scherzchen wie sonst? So kannte sie ihn gar nicht. Plötzlich spürte sie dieses heiße Kribbeln, das sie immer befiel und ihren Magen zusammenzog, wenn sie merkte, dass etwas nicht stimmte.
»Weshalb haben Sie bei diesem Fall eigentlich zum ersten Mal eine Privatperson als Klientin gegen eine Firma vertreten?« Evelyn wollte die Frage wie beiläufig stellen, doch sie wusste, dass ihr das nicht gelungen war.
»Evelyn, was wollen Sie wissen?«
Okay. Sie atmete tief durch. »Ich möchte Sie bitten, mir Einsicht in die Akte zu gewähren. Ich sehe da eine Verbindung zu einem Fall von mir, der …«
»Die beiden Fälle hängen nicht zusammen«, unterbrach er sie.
Er war seit gestern im Urlaub - wie konnte er wissen, von welchem Fall sie sprach? Wieder dieses Kribbeln. »Ich …«
»Evelyn, halten Sie sich aus dieser Sache raus.« Er hielt inne. »Einen Moment bitte, es läutet an der Tür.«
Sie wartete. Himmel, die Angelegenheit war schwieriger, als sie gedacht hatte. Was war schon dabei, wenn sie seine Akte nahm und einen Blick in die Protokolle warf? Im Gastgarten des Andante war er kein solcher Geheimniskrämer gewesen. Da hatte ihn ihre Meinung zu diesem Fall interessiert. Aber jetzt?
Sie hörte seine Schritte, als er durch die Wohnung ging. Ein erneutes Surren der elektronischen Klingel. Das Klimpern der Sicherheitskette.
Stille.
Dann Holobecks entfernte, dumpfe Stimme. »Sie …?« Kurz darauf wurde die Verbindung unterbrochen.
13
Walter Pulaski saß im Besprechungszimmer der »Steinernen Glocke«, der Psychiatrie Markkleeberg.
Moderne Psychotherapie hin oder her - im Prinzip war das Haus immer noch dasselbe wie früher: eine Landesirrenanstalt. Mittlerweile glaubte Pulaski sogar, dass die Neurologen, Therapeuten und Fachärzte für Psychosen, Traumata oder depressive Erkrankungen, die innerhalb dieser Mauern ihren Dienst schoben, einen ebenso großen Schaden hatten wie so manche Patienten. Möglicherweise lag das merkwürdige Verhalten des Personals auch darin begründet, dass jemand Natascha Sommer, die junge Patientin aus Zimmer 27, mit einer Flasche Gin und einer Überdosis Paracetamol ermordet hatte. Es kam eben nicht alle Tage vor, dass ein Kripobeamter einige Räume mit Plomben versiegelte, eine Pathologin von der Gerichtsmedizin kam, um eine Leiche abzutransportieren, und zwei Spurensicherer mit Lampen, Leitern und großen Koffern auftauchten und alles untersuchten, fotografierten und eintüteten, was nur irgendwie mit der Toten zu tun hatte.
Bei ihrem Eintreffen hatten die Kollegen Pulaski noch belächelt und hinter seinem Rücken das Gesicht verzogen - was ihm natürlich nicht entgangen war. Meike, die Gerichtsmedizinerin, hatte die Vorbehalte ausgesprochen. Ist der Aufwand wirklich notwendig? Die Kleine hat sich die Spritze höchstwahrscheinlich seihst gesetzt. Wie immer wollte jeder den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Nur nicht mehr tun als unbedingt nötig!
Nachdem Pulaski der Gerichtsmedizinerin Nataschas Abschiedsbrief gezeigt und ihr anschließend erklärt hatte, dass eine Linkshänderin sich wohl kaum zwei Mammutspritzen mit insgesamt 100 ml in die linke Armbeuge setzen würde, war sie nachdenklich geworden. Natürlich wäre es einfacher gewesen, wenn der alte Pulaski - der früher mal eine große Nummer beim LKA gewesen war und jetzt als Beamter des Dauerdienstes nur noch Routinetatorte untersuchte, weil ihm seine Asthmaanfälle so zu schaffen machten - durchgedreht wäre und Morde sähe, wo es keine gab. Aber so verhielt es
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