Rachesommer
eine Bar. Die bunten Neonröhren über dem Eingang des Entrez-Nous waren zur Hälfte ausgefallen und surrten mehr, als dass sie blinkten. Die Autos, die vor dem Club parkten - ein Porsche, ein Mercedes und zwei Audis -, passten nicht in diese schäbige Wohngegend. Anscheinend ließen sich ihre Besitzer gern in einer Bar volllaufen, in der sie niemand vermuten würde.
Der Asphalt in der Straßenmitte war aufgerissen. Hinter der Baustellenabsperrung befand sich der offene Kanalschacht. Der Deckel lag immer noch daneben im Sand. Evelyn war schon einmal hier gewesen, doch nicht weit gekommen, da die Kripo den Unfallort abgeriegelt hatte. Mittlerweile scherte sich niemand mehr um die Baustelle. Was hatte Rudolf Kieslinger, den renommierten Kinderarzt im Ruhestand, wohl in diese Gegend geführt? Der Geldautomat?
Nicht einmal drei Tage nach seinem Tod führte die Witwe bereits eine Privatklage gegen Onkel Jan. Der Sachverständige von Onkel Jans Haftpflichtversicherung hatte die Baustelle für ausreichend gesichert befunden. Deshalb war die Versicherung ausgestiegen und hatte keinen Cent gezahlt. Falls Onkel Jan den Prozess verlor, haftete er mit seinem Privatvermögen.
Der raffinierte Anwalt der Gegenseite hatte beim ersten außergerichtlichen Vergleichsgespräch behauptet, Kieslinger sei nach dem Besuch einer Benefizveranstaltung für krebskranke Kinder zur U-Bahn-Station gelaufen, wegen der schlechten Beleuchtung über die angeblich fahrlässig abgesicherte Absperrung gestolpert und kopfüber in den offenen Schacht gestürzt. Es gab schon blöde Zufälle! Vor allem weil die nächste U-Bahn-Station verdammt weit entfernt lag.
Jedenfalls wollte die Witwe sieben Millionen, was in Anbetracht der Begräbniskosten, Schmerzensgeldforderungen und Unterhaltsansprüche wegen Einkommensverlust völlig überzogen war.
Evelyn kannte die Richterin, und die Sache sah düster aus. Falls es hart auf hart ging, müsste Onkel Jan Konkurs anmelden. Dann säßen sieben Arbeiter, eine Bürokraft und ein Lehrling auf der Straße. Das wäre der letzte Schlag in einer langen Kette von Unglücksfällen, die ihre Familie seit ihrer Kindheit hatte hinnehmen müssen - und Evelyn hatte es satt, immer auf der Verliererseite zu stehen.
Sie knipste die kleine Stabtaschenlampe an, die immer im Handschuhfach ihres Wagens lag, schlüpfte aus den Stöckelschuhen, zog den Rock hoch und stieg über die Absperrung. Während sie die Lampe mit den Zähnen hielt, band sie ihr langes blondes Haar zu einem Zopf. Anschließend kletterte sie über die Eisenleiter in den Schacht. Er war eng und roch nach Kloake. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, wadentief in Dreck zu treten, doch am Ende der Leiter berührte sie trockenen Boden. Nach dem Unfall hatten die Stadtwerke wohl die Wasserzufuhr zum Kanaltrakt abgesperrt, und bei den warmen Temperaturen dieser Septembertage wunderte es sie nicht, dass der Kanal binnen weniger Tage ausgetrocknet war.
Hier hatte Kieslinger, ein Bär von einem Mann, also kopfüber gesteckt - und zwar so fest, dass ihn die Feuerwehrleute mit einer Seilwinde rausziehen mussten. Zu der Zeit, als es passiert war, hatte sich niemand mehr auf der Straße befunden, der Kieslinger hätte helfen können. Wie jetzt. Evelyn versetzte sich in seine Lage, bewegungslos hier zu hängen, mit dem Gesicht unter Wasser. Das eigene Gewicht drückte ihn immer tiefer nach unten, und er bekam die Arme nicht frei, um sich hochzustemmen. Das Wasser lief ihm in Nase und Ohren. Er konnte nicht um Hilfe rufen. Irgendwann musste er atmen, konnte aber nicht, und …
… sie spürte wieder den Jutesack über dem Gesicht, roch die feuchten Wände und fühlte die Kälte des Bodens, die ihre Finger klamm werden ließ. Sie konnte sich nicht bewegen. Das Seil schnitt immer tiefer in ihre Gelenke, und sie würgte die Magensäure hoch, konnte aber nicht ausspucken, weil das Klebeband so fest um ihren Mund…
Evelyn schrie auf und öffnete die Augen. Nicht schon wieder! Ihr Herz raste. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ohne es bemerkt zu haben, hatte sie sich in dem engen Schacht auf den Boden gekauert und die Knie an der Betonwand aufgeschürft. Die Taschenlampe war ihr aus der Hand gefallen und in die Seitenröhre gerollt. Zum Glück litt sie nicht an Klaustrophobie, sonst hätte sie in diesem Moment eine Panikattacke bekommen.
Evelyn kauerte sich tiefer hinunter, doch die Röhre war zu eng. Sie konnte die Lampe nicht mit den Fingern erreichen. Da bemerkte
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