Rachewahn: Thriller
meine Identität gar nicht verschleiern möchte?“
Volker stutzte. „Doch, das leuchtet ein. Und auch wieder nicht. Ich kapiere nämlich nach wie vor nicht, was Sie hiermit bezwecken. Die Polizei wird Ihre Identität in Kürze herausgefunden haben. Dann haben Sie verloren. Demnach deutet alles darauf hin, dass Sie sich gefangen nehmen lassen wollen. Einen Ausweg gibt es jetzt schließlich nicht mehr. Oder sehe ich das falsch?“
Anna hob die linke Hand mit dem Auslöser. „Es gibt noch eine andere Möglichkeit, Volker.“
„Nein, Sie sind keine Selbstmörderin. Und Sie würden schon gar nicht mehrere unschuldige Menschen mit in den Tod reißen. Das sehe ich Ihnen an.“
„Sie machen einen großen Fehler. Sie sind ein Busfahrer, spielen sich aber wie ein Psychologe auf. Ein professioneller Psychologe würde Ihnen jedoch sofort sagen, dass man nicht vom Aussehen eines Menschen auf dessen Charakter schließen kann. Und man kann erst recht nicht voraussehen, wozu dieser Mensch in Extremsituationen im Stande ist.“
„Das mag sein. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass Sie bluffen. Ihre ruhigen Augen können nicht lügen. Sie werden den Auslöser nicht betätigen. Darauf verwette ich alles, was ich habe.“
„Warum greifen Sie mich dann nicht auch an?“
„Vielleicht mache ich das noch.“
Anna zielte mit der Waffe auf ihn. „Besonders lernfähig sind Sie auch nicht. Sonst hätten Sie erkannt, dass ich in diesem Zusammenhang nicht lange fackele.“
Im nächsten Moment ertönte ein zweiter Schuss.
16
Ein Tag zuvor
Nora Feldt saß an diesem sonnigen Freitagnachmittag in ihrem Büro und verstaute einen Bericht in ihrer Schublade. Die 38-jährige Kriminalhauptkommissarin war einssechsundachtzig groß, hatte einen durchtrainierten Körper und trug in der Regel schwarz-weiße Kleidung. Heute hatte sie sich für einen Hosenanzug entschieden, der ihre Autorität besonders unterstreichen sollte. Schließlich kam es nicht selten vor, dass Kriminelle eine weibliche Ermittlerin nicht ernst nahmen und sich dementsprechend verhielten. Da Nora dies partout nicht leiden konnte, bemühte sie sich immer, allein schon durch ihren Kleidungsstil einen bestimmten Standpunkt zu verdeutlichen: Mit mir ist nicht zu spaßen.
Dass sie in ihrem Privatleben hingegen eine lockere, umgängliche Frau war, verblüffte sie zuweilen selbst. Der Spagat zwischen Beruf und Freizeit war zwar nicht immer leicht, aber in ihrer bisher zwölfjährigen Karriere hatte sie gelernt, ihn bestmöglich auszuführen. Zu Beginn war es ihr sehr schwergefallen, die schlimmen Anblicke und Erfahrungen ihrer Arbeit nicht mit nachhause zu nehmen. Sie hatte akzeptieren müssen, dass sie bestimmte Angelegenheiten nicht vollständig verstehen konnte. Wie war es zum Beispiel möglich, dass ein Vater seine eigene Tochter misshandelte? Wie konnte jemand einen anderen Menschen ermorden? Was ging in dem Kopf einer solchen Person vor? Derartige Fragen durfte Nora sich nicht mehr stellen. Sonst müsste sie sich nämlich zu intensiv mit einem Bereich der menschlichen Psyche befassen, den sie gar nicht wirklich nachvollziehen wollte. Einige Erlebnisse überstiegen schlichtweg ihren Horizont. Sie konnte nur dafür sorgen, dass die Verbrecher dem Richter vorgeführt und ihrem Vergehen entsprechend verurteilt wurden. Die Dramen und Tragödien, die sich hinter den Taten abspielten, konnte sie nicht lösen. Dafür waren andere Experten zuständig.
Und ich bin mehr als dankbar, dass es so ist.
Es war dieser Gedanke, der Nora durch den Kopf schoss, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Sie schob die Schublade zu, griff zum Hörer und meldete sich: „Hier spricht Hauptkomm…“
„Ich bin’s“, unterbrach der Anrufer sie.
„Oh, hallo. Was gibt es, Herr Kortmann?“
Noras Vorgesetzter ließ keine Zeit verstreichen: „Ich habe eben erfahren, dass es einen Doppelmord auf einer Hochzeit gegeben hat. Ausgerechnet das Brautpaar wurde getötet. Die beiden sind 25 Jahre alt.“
Nora umklammerte den Telefonhörer mit festem Griff. Zwei junge Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich hatten! So etwas Sinnloses!
„Es handelt sich um die Hortmann-Hochzeit“, fuhr Kortmann fort. „Sicherlich haben Sie davon schon gehört.“
„Ja, ich habe gelesen, dass der Sohn von Albert Hortmann heute heiraten wollte.“
„Tja, die Heirat hat er noch geschafft. Doch jetzt liegt er erstochen im Badezimmer seines Elternhauses. Dort findet derzeit die Feier
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