Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
ist.«
»Das Gleiche wie bei dem Sohlenabdruck? Gibt es von der Seite Neues?«
»Es kann dieselbe Person sein, aber das lässt sich nicht sagen. Also, leider nein, keine Neuigkeiten. Aber wir arbeiten dran.«
Er verließ die Abteilung und musste schon wieder an Alexander denken. Was sollte aus ihm nur werden in einer Stadt, in der es an allen Ecken haufenweise Waffen gab, die Banden sich auf offener Straße bekämpften und Bombenanschläge und Mord zur Tagesordnung gehörten? Was war nur aus Århus geworden? Sentimentalität war hier fehl am Platz, und normalerweise setzte auch immer sein Sinn für Realismus ein, aber manchmal musste man auch kurz innehalten dürfen, um sich seine Gedanken zu machen. In welche Richtung entwickelte sich dieses Land, wo Gewalt und Macht den normalen Bürger davon abhaltenkonnten, zu McDonald’s zu gehen, oder eine Krankenschwester, ihrer Arbeit nachzugehen? Wer zog in Wirklichkeit die Fäden in Dänemark, seinem Land, auf das er sein Leben lang so stolz gewesen war und das er so aufrichtig liebte?
Er war kein Befürworter härterer Strafen und von mehr Polizeipräsenz. Er hatte immer an die Veränderungen von innen geglaubt. Hatte auf das Verantwortungsbewusstsein und den Sinn für Gemeinschaft vertraut. Aber das war einmal. Jetzt war es anders. Alles hatte sich verändert.
KAPITEL 48
»Du weißt genau, dass ich das nicht kann. Das sind sensible Informationen.«
Dictes Kontakt in der Sozialbehörde war nicht so entgegenkommend, wie sie gehofft hatte.
»Es geht nicht um einen Artikel. Das wird niemals an die Öffentlichkeit gelangen.«
Mia Nellemann schnaubte in den Hörer. Es ließ sich nicht sagen, ob es an ihrer Erkältung lag oder ob sie abweisend klingen wollte.
»Das ist ja noch schlimmer. Ich kann doch keine geheimen Daten für den Privatgebrauch herausgeben.«
»Darfst!«, korrigierte sie Dicte. »Du darfst nicht, aber du kannst schon!«
»Silbenstecher!«
»Sturkopf!«
Mia musste lachen. Dicte nutzte die Chance.
»Ich komme gleich mit Kuchen vorbei, kannst du Kaffee bereitstellen?«
»Kaffee kann ich bereitstellen, aber das ist auch das Einzige!«
»Vergiss den Namen nicht, Cato Nielsen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr ihn in der Kartei habt. Bis gleich!«
Sie dachte nicht mehr so oft daran zurück. Aber die Sozialbehörde hatte sie auch schon einmal unter ihre Fittiche genommen. Damals war sie jung und dumm gewesen und hatte Dinge gemacht, die sie später bereute. Mia Nellemann war einer ihrer Anker gewesen, Mia hatte an sie geglaubt. Sie hatte ihr zugetraut, sich ein Leben außerhalb der Zeugen Jehovas aufzubauen, eine Ausbildung zu machen und klarzukommen, ohne die Familie, die sie verstoßen hatte. Mia hatte damals als Sachbearbeiterin auf dem Sozialamt in Åbyhøj gearbeitet.
Die Erinnerungen meldeten sich zu Wort, während sie die Guldsmedgade hinunterging, um in der Konditorei »Emmerys« den besten Kuchen der Stadt zu kaufen. Es war eine Zeit in ihrem Leben, die sie am liebsten verdrängte. Trotzdem holte sie die alten Bilder manchmal hervor und betrachtete sie eingehend, um sie dann wieder wegzupacken. Sie erinnerte sich nicht so sehr an Details, vielmehr an den inneren Schmerz, die Verwirrung und die Angst vor dem Ewigen Blutbad, bei dem die Lämmer von den Böcken getrennt wurden und die Auserwählten ins Tausendjährige Reich ziehen durften.
Und sie gehörte schon lange nicht mehr zu den Auserwählten. Sie war eine Abtrünnige. Sie hatte ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und außerdem ein Verbrechen begangen. Sie hatte die Auflage bekommen, sich regelmäßiger ambulanter psychiatrischer Betreuung zu unterziehen. Sechzehn Jahre alt war sie gewesen, aber nicht der Psychiater hatte sie wieder auf die Beine gebracht, sondern Mia Nellemann. Mia, die sich immer Zeit für sie nahm, Mia, die in ihr die eigene, verlorene Tochter sah. Aber das begriff Dicte erst viel später.
Die kleinen Gesten machten den Unterschied. Eine Tasse Kaffee und zehn Minuten extra, um über dies und das zu quatschen. Mal ein Sandwich, das sie sich teilten. Im Sommer nebeneinander auf der Bank vor dem Gebäude in der Sonne sitzen. Eine aufmunternde Umarmung. Lob, wenn sie gute Noten am Abendgymnasium bekommen hatte.
Natürlich war es nicht dasselbe wie mit Anne. Mia war keine beste Freundin, sondern eher wie Familie. Den Einfluss, den Mia auf sie gehabt hatte, wusste sie erst viel später zu schätzen. Und jetzt war sie auf dem besten Weg, ihre Retterin von
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