Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
damals zu korrumpieren. Zu der sie mit Kuchen angeschlichen kam, um etwas von ihr zu bekommen. Das wusste Mia, und Dicte wusste es natürlich auch.
Sie entschied sich für je zwei unwiderstehliche Schokoladenkuchen und Nusstörtchen und lief einmal quer durch die Stadt zum Rathaus, wo Mia ihr Büro in der Abteilung »Kinder und Jugendliche« hatte.
Mia strahlte. Das hatte sie schon immer getan. Ein strahlendes Lächeln, das helle Haar, die leuchtenden Augen, die einen ganz besonderen Glanz besaßen. In ihrem Blick lag immer aufrichtiges Interesse, so auch an diesem Tag. Sie war eine waschechte Århusianerin und sprach mit einem so breiten Dialekt, dass er sogar für Dicte gewöhnungsbedürftig war. Aber unglaublich charmant. Sie war Ende fünfzig, doch das Alter stand ihr sehr gut. Feine Lachfalten umspielten ihre Augen, und silberne Fäden durchzogen die blonden Haare, die in einem wilden Knoten von einer Spange gehalten wurden.
»Du hast dich gar nicht verändert.«
»Lügnerin«, lächelte Mia geschmeichelt.
»Wer sagt denn, dass das ein Kompliment war? Wo ist mein Kaffee?«
Sie warf die Tüte mit dem Kuchen auf den Schreibtisch. Mia gehörte nicht zu den Schlanksten, und sie liebte Kuchen. Dicte hatte den Verdacht, dass sie sich ausschließlich davon ernährte. Mia erhob sich, um Kaffee und zwei weiße Porzellanbecher zu holen. Als sie wieder zurückkam, war das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwunden.
»Du hast ihn dir angesehen?«, fragte Dicte. »Ist es eine traurige Geschichte?«
Mia versuchte neutral auszusehen, während sie Kaffee eingoss. Dicte riss die Kuchentüte auf. Schweigend saßen sie sichgegenüber und genossen den Geschmack von Schokolade, der sich mit dem Aroma des Kaffees mischte.
»Ich weiß nicht, wozu du die Informationen benötigst, und ich will es auch gar nicht wissen.«
Mia legte ihr Kuchenstück fast andächtig auf die Tüte.
»Und du bekommst von mir nicht mehr als diesen Kaffee.«
Sie nahm einen Schluck.
»Aber ich darf Fragen stellen?«
»Du kannst fragen, und dann sehen wir, ob ich darauf antworten will.«
»Es gibt also eine Akte über ihn.«
»Ja, die gibt es.«
»Und wie weit reicht die zurück?«
»Bis zur Geburt.«
»Und die war?«
»1978.«
Das war das Jahr, in dem ihr Sohn zur Welt kam.
»Wurde er aus seinem Elternhaus entfernt?«
»Das geht dich nichts an.«
Mia biss vom Schokoladenkuchen ab und schien die Zurückweisung so sehr zu genießen wie den Geschmack der Süßspeise.
»Okay, dann rate ich. Er wuchs auf in einem Kinderheim in Ry oder auch bei Pflegeeltern dort. Er ging auf die Mølleskole. Und hatte Probleme. Rein in die Institutionen und wieder raus. Drogen. Kriminalität. Ein verlorenes Kind.«
»Ein sehr vielversprechendes Kind«, widersprach Mia, die Beschützerin der Schwachen. »Bis irgendetwas Schlimmes passierte, als er circa zehn Jahre alt war. Danach ging es nur noch bergab.«
»Wo wohnt er? Was macht er heute? Wovon lebt er?«
Mia leckte sich genüsslich alle Finger einzeln ab.
»Mann, war das ein leckerer Kuchen. Und teuer, was? Du musst wirklich verzweifelt sein!«
»Verzweifelt ist mein zweiter Vorname.«
Mia lächelte.
»Stimmt, das hatte ich vergessen. Aber nur für einen kurzen Moment!«
»Ich werde dir die Geschichte später genau erzählen, versprochen.«
Mia Nellemann seufzte.
»Die letzte bekannte Adresse ist in der Anholtsgade, Århus C. Aber bis Anfang September hat er sich in der Entzugsklinik Skråen in Odder aufgehalten.«
»Entzug!«
»Ja, so was in der Art. Aber mit Erfolg, soweit ich weiß. Vier Monate war er dort, ein Musterpatient. Hochmotiviert, wie es heißt.«
KAPITEL 49
Jemand hatte auf Facebook eine Gruppe eingerichtet, als Unterstützungsforum für sie. Mittlerweile hatte die über tausend Mitglieder. »Way to go, Francesca! Endlich eine Frau, die zu ihrer Sexualität steht!«, oder: »Du bist echt ein Hammer, Francesca!« Die aufmunternden Beiträge waren eindeutig in der Mehrzahl.
Aber es gab auch die anderen Stimmen. Die verärgerten. Die selbstgerechten. Die enttäuschten.
Eigentlich hätte sie diese Einträge ignorieren müssen, aber etwas in ihr zwang sie dazu, sie dennoch zu lesen. Jeden einzelnen.
»Widerliche Hure. Glaubst du wirklich, wir wollen so eine wie dich als Bürgermeisterin? Hast du dich zur Nominierung hochgeschlafen?«
Oder aber sie bekam unzweideutige Angebote: »Was du brauchst, ist ein richtiger Mann. Ich komme gerne mal vorbei und zeige dir, was ein Schwanz so
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