Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
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Zusätzlich musste sie sich auch den Kollegen im Rathaus gegenüber verhalten. Den Blicken ausweichen, die mehr sagten als Worte, oder die sich von ihr abwandten, sobald sie um die Eckebog. Aufmunternde Bemerkungen, die falsch und hohl klangen. Oder die offene, unverfälschte Anklage von einigen, vor allem jenen etwas ältlichen Sekretärinnen, die jeden Abend direkt nach der Arbeit nach Hause fuhren, um ihrem Mann das Essen zu machen.
Wenn ihr alles zu viel wurde, suchte sie Zuflucht in ihrem Trainingsstudio und absolvierte eine Einheit nach der anderen am Punchingball. So wie jetzt. Poff, poff, poff. Die Schläge waren rhythmisch und präzise. Der Schweiß lief ihr in Strömen herunter.
Poff, poff, poff. Sie wollte sie zusammenschlagen. Alle, die es nur gut meinten. Alle, die sie falsch verstanden. Alle, die keine Ahnung hatten, worum es eigentlich ging. Alle Heuchler. Aber vor allen: sich selbst.
Sie hatte es seit der Scheidung weit gebracht, aber es hatte seinen Preis gehabt. Und diesen bezahlte sie jetzt. Den Preis dafür, dass sie sich von ihren Fesseln befreit und sich für ein Leben ohne Ehemann entschieden hatte; den Preis dafür, dass sie sich von einer unterdrückten Hausfrau und Mutter zu einem politischen Alphatier entwickelt hatte.
Als sie sich damals zum BWL-Studium angemeldet hatte, hatte William sie nicht ernst nehmen wollen. Und er hatte auch nicht bemerkt, wie sie sich veränderte. Aber wenn sie zurückdachte, war das der Ort gewesen, an dem ihre politischen Ideen zum Leben erweckt wurden. Wahrscheinlich keimte auch zeitgleich ihre Selbstständigkeit auf. Plötzlich hatte sie erkannt, wie alles zusammenhing: dass auch sie Einfluss nehmen konnte. Nicht nur auf ihr eigenes Leben, sondern auch auf ihre Umwelt. Sie begriff die Möglichkeit, erst sich selbst zu befreien und dann anderen in die Selbstständigkeit und zur Wiedererlangung ihrer Würde zu verhelfen. Eines Tages hatte sie im Versammlungshaus der Studenten, im Stakladen, einer Debatte zwischen zwei Abgeordneten beigewohnt. Kurz darauf wurde sie Mitglied der größten Oppositionspartei. Sie wollte Gleichheit und Freiheit, beides, sofort. Sie war liberal, aber soziale Gerechtigkeit standganz oben auf ihrer Agenda, und ihr Plan war es, auf lokaler Ebene anzufangen und sich auf die nationale Ebene hochzuarbeiten. Von dieser Plattform aus war sie nämlich in der Lage, die Williams dieser Welt in Schach zu halten.
Aber sie bezahlte einen hohen Preis. Es kostete viel Kraft, den eigenen Ambitionen treu zu bleiben und doch bis an die Spitze zu kommen. In einer Welt, in der Muskeln und Testosteron ein Vorteil darstellten, während Brüste und Hüften sowie der Unwille, diese Details hinter unförmigen Kleidungsstücken zu verbergen, als eine Bedrohung gesehen und damit zum Nachteil wurden.
Eigentlich hatte sie gedacht, dass die Gesellschaft schon weiter war und diese Fragestellung kein Problem mehr darstellte. Sie war keine Feministin, zumindest nicht im radikalen Sinne des Wortes. Und sie war auch nicht links. Sie war immer der Ansicht gewesen, dass Können, Fleiß, Intelligenz und Ambitionen genug seien, um ans Ziel zu kommen.
Poff, poff, poff. Die Schläge taten in den Händen weh, der Schmerz zog bis in die Arme hoch, aber sie ließ nicht nach.
Es war nie genug. Aber daran hatte sie selbst am meisten Schuld. Sie hatte Fehler begangen. Der größte davon begleitete sie mit einer nie endenden Trauer. Nein, vielleicht war das gar nicht ihr größter Fehler. Vielleicht gab es da noch einen, der sich jetzt als weitaus größer erwies.
Schlag auf Schlag zersplitterte ihre Schutzhülle und drängte sie immer tiefer in ihre Erinnerung. Sie wollte aufhören, konnte es aber nicht aufhalten. Und plötzlich brach alles aus ihr heraus, als wäre es die ganze Zeit im Inneren des Punchingballes gefangengehalten worden und suchte sich nun den Weg nach draußen.
Sie musste an den kleinen Jungen denken, den sie einst gekannt hatte. Er war einer von Williams Jungen gewesen, aber dieser war anders als die anderen. Vielleicht weil sie gerade zum zweiten Mal eine Fehlgeburt erlitten hatte.
Er war kein Baby mehr gewesen, aber sehr klein für sein Alter.Instinktiv hatten sie einander gesucht und gefunden. Die Mutter, der ein Kind fehlte, und der Junge, dem die Mutter fehlte.
Es war das erste – und auch das einzige – Mal, dass sie sich gegen William durchgesetzt hatte. Dieser Junge gehörte zu ihr. Das war die einzige Bedingung, die sie stellte.
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