Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
garantiert welche, die davon nicht so begeistert waren?«
KAPITEL 58
Der Hund hielt immer wieder an und wartete auf sie, aber seine Ungeduld wuchs mit jeder Minute. Etwas Unbestimmbares trieb ihn an, ließ ihn immer schneller die Waldpfade entlanglaufen, über kleine Gräben springen oder durch einen Bach waten.
Sie sprachen nicht viel, aber ihr Schweigen war behaftet mit einer Frage und der schweren, dumpfen Erwartung, dass etwas bevorstand, das alles verändern würde.
»Du solltest nach Hause gehen«, wiederholte er seine Aufforderung, aber dieses Mal klang sie so, als hätte seine Überzeugungskraft alle Energie verloren. »Das hier ist nicht dein Problem.«
Sie erwiderte nichts. Es war anstrengend genug, mit ihm Schritt zu halten.
Außerdem konnte sie ihm unmöglich antworten, dass sein Problem auch das ihre sei. Oder dass er ihr Problem war, was wahrscheinlich eher der Wahrheit entsprach. Wenn sie das sagen würde, würde er ihr den Kopf abreißen, das wusste sie.
»Das ist mein Leben. Das geht dich nichts an.«
Er sprangüber einen Baumstumpf und lief im Zickzack durchs Gestrüpp. Sie hatten eine Lichtung erreicht, die Sonne schienzwischen den Wolken hindurch und tauchte die Landschaft in grüne und gelbe herbstliche Farben.
Es gab eine Zeit, da war dein Leben auch meins, dachte sie. Da konnte ich dein Leben in mir spüren. Ich hätte dafür kämpfen können, dich zu behalten. Aber ich habe mich gegen dich entschieden.
Sie folgte ihm mit Blicken, wie er sich vom Hund führen ließ. Von der Krankheit, an der er gelitten hatte, war nichts mehr zu sehen. Sein Körper war schmal und muskulös, seine Bewegungen geschmeidig wie die eines Fußballspielers auf dem Rasen: ökonomisch, sorgsam, wie von jemandem, der seinen Körper in- und auswendig kannte.
Ihr war es schwergefallen, etwas für ihn zu empfinden. Er war so abweisend. So hart. Aber als sie ihn so vor sich herlaufen sah, gehetzt, um das Wohlbefinden eines anderen Menschen besorgt, wurde sie plötzlich von Mitgefühl überwältigt. Und von Ohnmacht. Denn tief im Unterbewusstsein war ihr klar, was ihm bevorstand – und auch ihr. Und sie wusste, dass ihn das zerbrechen würde.
Unerwartet öffnete sich die Baumreihe, und vor ihnen erstreckte sich das Postkartenmotiv. Das Tal mit Wäldern und Wiesen, so weit das Auge reichte. Und weiter unten das Internat, wo sie ihr Auto geparkt hatte. In der Nähe eines Hofes standen Pferde auf einer Wiese. Die Landschaft bestand aus Hügeln und Tälern, aus Seen und Flüssen. Man konnte es zwar von dort aus nicht sehen, aber weiter im Landesinneren – gar nicht so weit von ihnen entfernt – lag der höchste Berg Dänemarks, der Himmelbjerg.
Der Hund rannte den Hügel hinunter. Sie folgten ihm und näherten sich dem Hof, an dem sie am Tag zuvor auf Miriams Anweisung hin in den Wald abgebogen war. Für einen Augenblick verschwand der Hof aus ihrem Blickfeld, und der Wald umschloss sie erneut. Aber dann war er wieder zu sehen, viel näher als zuvor, und sie hörten Kajs Bellen. Und dann folgte ein Geräusch, das durch Mark und Bein ging. Wie ein Wolf in einerVollmondnacht. Ein langgezogenes Geheul, das von einer großen und unerfüllten Sehnsucht erzählte und von Genen, die unzählige Hundegenerationen überdauert hatten.
Sie kamen näher und konnten ihn sehen. Er saß am Fuß eines großen, freistehenden Baumes. Seine Schnauze zeigte hoch zu den großen, starken Ästen.
»Neeiiin!«
Er schrie und stürzte gleichzeitig den Hügel hinunter. Sie sah es von weitem, sie sah die Gestalt, die dort hing. Mausgraue Haare flatterten im Wind: Eine viel zu große Jacke offenbarte darunter eine kleinen, mageren Mädchenkörper. Die Schlinge um ihren Hals hatte den Kopf nach unten, auf die Brust gedrückt.
Dicte blieb stehen. Sie wollte weitergehen, sie wollte helfen und trösten, aber etwas hielt sie zurück, und sie suchte verzweifelt nach einer Erklärung, warum. Dann plötzlich wusste sie es. Es war der Baum. Der freistehende, große Baum mit den gräulichen Ästen. Sie erkannte ihn wieder, auch den Hof aus roten Backsteinen im Hintergrund. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, stand er in Flammen.
KAPITEL 59
»Lass sie los. Du darfst nichts anfassen.«
Er vernahm ihre Worte, doch er hörte sie nicht. Andere Laute, ein Rauschen erfüllte seinen Kopf. Das Rauschen eines riesigen Meeres der Leere. Das Rauschen von unendlichen, unwegsamen Weiten ohne Leben. Von einem Dasein ohne jeden Sinn. Das Rauschen der
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