Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
passte. Ultrakurzes Haar wie ein Soldat. Ein Stiernacken mit ausgeprägten Halsadern. Gerade Nase, eng anliegende Ohren, engstehende Augen. Schöner Mund. Freundlich. Unauffällig. Wenn man nur die Einzelteile betrachtete.
In der Halbzeit nahm er ein paar der Spieler beiseite und legte seinen Arm um ihre Schultern. Er beugte sich dicht zu ihnen hinunter, schüttelte sie hin und her, spielerisch, wuschelte in ihrem Haar und lächelte, fast liebevoll.
Die Eltern der Kinder saßen im Zuschauerraum. Sie sahen in ihm vielleicht auch nur eine Ansammlung von Einzelteilen. Francesca knautschte die Handtasche auf ihrem Schoß und dachte an den Punchingball und an die Stunden, die sie damitverbracht hatte. Nur ein einziges Ziel hatte sie immer gehabt: alles aus ihm herauszuprügeln. Auf ihm so brutal und unerbittlich herumzutrampeln, bis ihre Wunden und ihr Hass sich in Tod verwandeln würden.
Kaum hatte die Trillerpfeife das Ende des Spiels verkündet, strömten die Kinder in alle Richtungen. Der Sieg war an die Gastgeber gegangen. Die Lystrup-Liliputaner waren den anderen haushoch überlegen gewesen.
Sie stand auf und ging die Treppe zum Spielfeld hinunter. Sie musste sich dazu zwingen, war aber gleichzeitig dankbar, ihm an einem öffentlichen Ort zu begegnen.
»Villy.«
Sie benutzte seinen neuen Namen. Er wirbelte herum, sie konnte an seinen Bewegungen sehen, dass er ihre Stimme erkannt hatte.
»Fran!«
Er kam auf sie zu. Sie hatte sich oft vorgestellt, wie wohl eine Begegnung mit ihm sein würde. Sie hatte gehofft, sie wäre stark genug und könnte ihm entgegentreten. Aber er war ihr nach wie vor überlegen, das spürte sie. Sein Blick wich keine Sekunde von ihr, mit unglaublicher Sogkraft, ließ ihren freien Willen schwanken. In Gedanken hielt sie ein Kreuz in die Luft, um ihn abzuwehren.
»Ich höre und lese so viel über dich. Wie geht es dir?«
Er griff ihre Hände, und sie begrüßten sich mit einem Kuss auf die Wange. Seine Lippen waren kühl.
»Danke. Gut.«
Mehr bekam sie einfach nicht heraus.
»Dich drehen sie ja im Moment ganz schön durch die Medienmangel, was? Das muss weh tun.«
Weh tun, dachte sie. Du hast keine Ahnung davon, was Schmerz ist.
»Das geht schon«, stieß sie hervor. »Ich überlebe das.«
Als er die Hand hob, dachte sie, er wolle sie ohrfeigen. Instinktiv wich sie aus, wie ein scheuer Hund. Sie sah Genugtuungin seinen Augen aufblitzen, als er dann die Hand zum Kopf hob, um sich über die Stoppeln zu streichen.
»Wie hast du mich gefunden? Über Shirley?«
Natürlich hatte Shirley ihn angerufen. Natürlich war er auf ihren Besuch vorbereitet gewesen. Wie dumm sie war. Sie nickte.
»Es war unmöglich, dich über die offiziellen dänischen Kanäle ausfindig zu machen, sogar für jemanden wie mich.«
»Gut. So war es ja auch gedacht.«
In der Halle herrschte Aufbruchsstimmung. Die Spieler verschwanden in den Umkleidekabinen zum Duschen mit Taschen und Handtüchern. Der Trainer und ein paar Freiwillige begannen aufzuräumen. William sah auf die Uhr. Dann senkte er die Stimme.
»Du, wir können jetzt hier nicht ewig herumstehen. Aber ich wohne ganz in der Nähe. Wir könnten uns bei mir treffen, sagen wir in einer Stunde?«
Sie hatte keine Lust, aber hatte sie eine Wahl? Er gab ihr die Adresse, und sie gab vor, die Zeit ohne Probleme für Einkäufe nutzen zu können. Dann setzte sie sich ins Auto und fuhr zu Netto und zum Metzger, während sie krampfhaft versuchte, die Angst unter Verschluss zu halten, und sich einredete, dass er keine Bedeutung mehr für ihr Leben hatte. Aber in ihr war das Bild eines zerfetzten Punchingballs.
Eine Stunde später stand sie vor seinem Wohnhaus aus gelbem Backstein, älteren Datums und ganz in der Nähe des Bahnhofs. Ganz schön tief gesunken, dachte sie, wenn man es mit den Jahren in England und ihrer gemeinsamen Zeit in Dänemark verglich.
Sie sah auf die Uhr. Sie war fünf Minuten zu früh, weshalb sie noch ein Stück durch die Siedlung lief und erfolglos versuchte, die Erinnerungen auf Abstand zu halten. Aber sie waren stärker: ihre erste Begegnung, als sie nach dem Abitur als Aupair nach Sussex in die Familie der Sinclairs gekommen war. Sie hatte ihn schon an ihrem ersten Tag dort getroffen. Williamstammte aus gutem Hause, wohnte in einer kleinen Wohnung im Nachbarhaus, hatte gerade seine Ausbildung beendet und große Pläne für die Zukunft. Er ging bei den Sinclairs ein und aus wie ein Sohn des Hauses – erst viel später erfuhr
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