Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
das Plätschern der Dusche, und wenn sie sich nicht irrte, auch einige Strophen eines undefinierbaren Liedes, die durch das Prasseln hindurchdrangen. Sie musste kleinmütig zugeben, dass der Mann genauso unmusikalisch war wie seine Mutter. Bo war in die Redaktion gefahren, wofür sie sehr dankbar war. Zwei Hähne im Haus zur selben Zeit war nicht gerade die Grundvoraussetzung für Gemütlichkeit.
Sie ließ den Plastikkorb mit den Handtüchern und Geschirrtüchern auf den Boden plumpsen und begann die Wäsche zusammenzulegen. Wenige Minuten später hörte sie, wie der Schlüssel in der Badezimmertür umgedreht wurde. Und da stand er plötzlich vor ihr, glattrasiert und in sauberen Sachen. Er sah anders aus und wirkte auch verändert.
»Die kommen, das weißt du, oder?« Er klang fast ausgelassen.
»Wer?«
»Die Polizei, natürlich. Was wirst du tun, wenn sie plötzlich vor der Tür stehen?«
»Ihnen die Wahrheit erzählen, hoffe ich. Ich hoffe, du hast sie mir erzählt, bevor sie auftauchen.«
Sie legte das zusammengefaltete Geschirrtuch auf den Couchtisch, nahm ein neues aus dem Korb und reichte es ihm.
»Du kannst auch ein bisschen arbeiten für die kostenlose Verpflegung.«
Er betrachtete das Tuch in seiner Hand, als würde er nicht wissen, was es ist. Dann legte er es sehr gehorsam zusammen und gab sich besonders viel Mühe, alle Seiten glattzustreichen, legte es auf das andere und nahm sich ein neues aus dem Korb.
»Okay«, sagte sie und griff nach einem Handtuch. »Zeit für den Austausch von Gefälligkeiten. Du hast Essen, eine Dusche und eine Unterkunft bekommen. Jetzt bist du dran. Erzähl zumindest, was dieser Baum für dich bedeutet?«
Sie wusste genau, dass er sie nach wie vor überprüfte und sich bei weitem noch nicht dafür entschieden hatte, ihr zu vertrauen. Mys Hund kam zu ihm und schnüffelte an seinem Bein, er streichelte ihm über den Kopf, bevor er sich ein neues Handtuch nahm und auch das beinahe übertrieben sorgfältig zusammenlegte.
»Früher haben die Bauern eine freistehende Esche im Garten ihres Hofes gepflanzt. Der Aberglaube nämlich sagte, dass der Baum bei Gewitter – und die konnten in den Zeiten reetgedeckter Häuser gefährlich sein – den Blitz anziehen würde und so den Hof vor dem Untergang bewahren könnte. Das nannte man einen Brandbaum.«
Kaj hatte sich auf Svendsens Schlafkissen breitgemacht, Svendsen selbst hatte sich in den Hundekorb im Hausflur zurückgezogen. Offenbar nahmen auch die Hunde teil an dem niemals endenden Kampf um Dominanz.
»Wenn du das erzählst, klingt das so positiv. Ich dachte, du hasst den Baum.«
»Der Aberglaube sagte auch, dass der Hof abbrennt, wenn man den Baum fällt.«
»Damit ich das richtig verstehe. Du hasst diesen Baum und hast dir immer gewünscht, er würde in Flammen aufgehen?«
Sie nahm das letzte Handtuch aus dem Korb. Er schüttelte den Kopf.
»Der Baum, das bin ich. Das waren wir. Er war das, was geschehen ist.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstanden habe.«
»Wir sind verbrannt. Um den Hof zu retten, wurden wir quasi lebendig verbrannt.«
»Und der Hof ist der Ort, wo du aufgewachsen bist? Der rote Hof in der Nähe der Esche, an der My hing?«
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. Müde sah er aus, obwohl er geschlafen hatte. Er sah zehn Jahre älter aus als seine einunddreißig.
»Im Kinderheim ›Titan‹. So hieß das damals. Aber es ist schon seit langem geschlossen. Die Gebäude gehören jetzt zu dem Internat, und die verwenden es für ihre Pferde.«
Es wurde still im Wohnzimmer. Nur Kajs schwere Atemzüge waren zu hören. Dann klingelte das Telefon, und Dicte ging in den Flur, um den Anruf entgegenzunehmen. Es war Davidsen. Sie hatte vergessen zurückzurufen.
»Lena Lund. Willst du die Story haben oder nicht?«
Seine Stimme klang mürrisch, aber so war es manchmal bei ihm.
»Verzeih mir. Die Zeit ist mir davongelaufen. Die Antwort lautet Ja.«
Immerhin hätte sie das alles in Gang gesetzt, schien sein Schweigen zu sagen. Sie hätte wenigstens zurückrufen können.
»Das ist eine fürchterliche Geschichte«, sagte er schließlich. »Grausame Geschichten erschaffen fürchterliche Menschen.«
Manchmal sprach Davidsen wie ein besonders anschaulich geschriebener Artikel, und dieser wäre äußerst geeignet, um die Aufmerksamkeit der Leser zu fesseln. Ihr Interesse an Lena Lund wuchs.
»Schieß los!«
»Okay. Mein Kontakt hatte leider keine Informationen aus erster Hand, darum musste er ein
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