Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
bisschen tiefer graben.«
Davidsen warf ihr noch einen Happen hin. »Die Geschichte hat tatsächlich in keiner Zeitung gestanden. Da wurde von unterschiedlicher Seite so viel Druck ausgeübt – Lunds Vater, ein gewisser Henry A. Lund, war Besitzer des ersten Kinos von Ålborg sowie mehrerer Eigentumshäuser –, dass der damalige Chefredakteur von der
Ålborg Stiftstidende
sich gegen eine Veröffentlichung entschieden hatte.«
»Und die Story ist?«
Sie hörte, wie Davidsen von einem Apfel abbiss und gewissenhaft kaute.
»Wir müssen siebzehn Jahre zurückgehen. Lenas Freundin Marie wird Opfer einer schweren Vergewaltigung. Sie wird eines Abends auf der Toilette einer Bar in der Jomfru Ane Gade in einer schrecklichen Verfassung aufgefunden. Der Täter ist der ehemalige Freund von Lena, ein Mike Vindelev-Holst. Die Freundin erinnerte sich nicht mehr an Details, aber ist sich sicher, dass er es war. Lena deckte Mike und behauptete, sie sei mit ihm zusammen gewesen. Sie konnte offenbar nicht fassen, dass er so etwas getan haben sollte, außerdem scheint es so, als sei sie noch immer in ihn verliebt gewesen. Einen Monat später aber vergewaltigt er Lenas Schwester und wird dann endlich angezeigt, verhaftet und verurteilt.
»Wie alt sind sie gewesen?«
»Lena war achtzehn, Sally sechzehn. Sie hat die Vergewaltigung nie überwunden, wurde drogenabhängig und psychisch instabil. Die Eltern haben Lena nie verziehen. Sie verleugnen sie nach wie vor.«
»Und deswegen wurde aus Lena Lund eine ehrgeizige Ermittlerin? Um die Fehler der Vergangenheit wieder gutzumachen?«
Davidsen räusperte sich.
»Das kann natürlich auch eine Überinterpretation sein. Aber naheliegend ist es schon, ja.«
Sie legten auf. Dicte blieb einen Augenblick stehen und betrachtete Peter B durch den Türspalt, wie er im Wohnzimmer saß, eine Hand auf Kajs Kopf und mit einem traurigen Blick in den Augen. War das ein Vergewaltiger und Mörder, den sie da sah? War sie auch, wie Lena Lund, beherrscht von einem Gefühl, das sie blind machte und entfernt an Liebe erinnerte?
KAPITEL 64
Francesca schloss die Tür auf und spürte den unstillbaren Drang, alles zu berühren, was ihr gehörte, ihr ganz allein, inklusive ihres Körpers.
Sie hatte nur eine Stunde in Williams Wohnung verbracht, doch es hatte genügt, sie in dieser kurzen Zeit in die Vergangenheit zu katapultieren. Zurück in jene Jahre, in denen sie nicht Herrin über ihren eigenen Willen gewesen war, sondern ihm die Herrschaft überschrieben hatte, so, wie man mit einer einfachen Unterschrift die Kontrolle des eigenen Bankkontos einem anderen übertragen konnte.
Während sie bei ihm gesessen und Kaffee getrunken hatte, waren die Erinnerungen gekommen. An die fünf Jahre in England, die sie als Menschen reduziert hatten zu seinem Anhängsel. Sie erinnerte sich an die Art und Weise, wie er dafür gesorgt hatte, dass sie das Vertrauen in ihre eigenen Ratgeber verlor. Sie hatte von ihrem Vater eine beträchtliche Summe sowie ein Haus außerhalb von Neapel geerbt, doch am Ende hatte sie Williams Anwalt, seinen Steuerberater, seine Bank und seinen Arzt übernommen (Letzterer hatte einen etwas leichtfertigen Umgang mit dem Ausstellen von Rezepten für Beruhigungstabletten gehabt). Sie erinnerte sich daran, wie es ihm fast unmerklich gelungen war, sie von ihrer Familie zu entfernen, von ihrer Mutter und ihrer Stiefschwester: Konnte sie sich sicher sein, dass sie wirklich nur ihr Bestes wollten? Waren sie in Wirklichkeit nicht wahnsinnig eifersüchtig auf ihr neues Leben und ihre Erbschaft? Hatten sie das Recht, ihr Leben zu verpesten mit ihren Forderungen nach Liebe und Aufmerksamkeit? Als ihre Mutter zu Besuch gekommen war, hatte er sofort ein Verdachtsmoment in sie eingepflanzt. Die Schwiegermutter war trotz ihres Alters noch eine sehr gutaussehende Frau gewesen, aber William versuchte ihr einzureden, dass sie der eigenen Tochter ihre Schönheit neidete. Warum wollte sie sich damit abfinden? Warum sollte sie sich davon herunterziehen lassen undsich von der eigenen Mutter demütigen lassen, die nicht begriff, dass ihre Tochter für etwas Großes bestimmt war an der Seite eines Mannes, der sie liebte, wie noch nie zuvor ein Mann eine Frau geliebt hatte?
Nach den ersten zwei Jahren zogen sie nach Jersey, wo Williams Idealismus gefragt war und seine Karriere bei der uneigennützigen Tätigkeit im Kinderheim Haut de la Garenne seinen Lauf nahm. Jersey war die Insel der Wohlhabenden, und sie
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