Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
aufgefressen worden waren, die nicht existierte. Alles hatte dem Kind zuliebe zurückweichen müssen, das friedlich in seinem Bett lag und schlief, nicht wissend, was es mit seinem Dasein erschütterte und welche Leben dadurch betroffen waren. Alles hatte sich um ihn gedreht, den Sohn des Hauses. In seinem Kielwasser waren einige Schiffbrüchige ertrunken. Einer von ihnen war ein anderes Kind gewesen, das aber nicht ihr leibliches war.
Sie hatte sich in einer seltenen, stillen Stunde aufs Sofa gesetzt und war eingeschlafen. Plötzlich spürte sie eine Hand, die ihren Arm streichelte. Automatisch hatte sie die Berührung erwidert, noch im Schlaf, bis sie aufwachte und erkannte, dass sie eingeschlafen war und somit Jonas im Stich gelassen hatte. Dann sah sie, wer sie gestreichelt hatte und neben ihr mit sehnsüchtigem Blick stand.
Wie sie so dasaß in ihrem Bademantel, den Kaffeebecher dicht an den Körper gepresst, erinnerte sie sich sehr genau an ihre Brutalität, mit der sie aufgesprungen war und den Jungen von sich gestoßen hatte. Er war schon so groß gewesen. Hatte Pickel im Gesicht gehabt und war in den Stimmbruch gekommen. In jenem Moment hatte er nur Ekel in ihr ausgelöst, dabei hatte erfrüher einmal die ganze Bandbreite an Muttergefühlen aktivieren können.
»Geh weg. Hau ab. Ich kann dich nicht mehr ertragen«, hatte sie ihn angefaucht.
Aber er hatte es nicht verstanden. Wie sollte er auch? Sie war all die Jahre wie eine Mutter zu ihm gewesen. Als er sich nicht vom Fleck rührte und sie weiter mit seinen viel zu großen Augen und mit diesem eindringlichen, sehnsüchtigen Blick anstarrte, hatte sie die Kontrolle verloren und ihm ins Gesicht gebrüllt: »Verschwinde. Ich liebe dich nicht mehr. Ich will dich nicht wieder sehen.«
Sie erinnerte sich an seine Tränen, die wie Fontänen aus seinen Augen schossen, aber das hatte ihr Herz nicht erweichen können. Im Gegenteil, es war ihr eher wie eine gigantische Provokation vorgekommen, als würde jemand in sie eindringen und ihr etwas antun.
»Ich hasse dich! Hörst du? Ich hasse dich, du kleine Schmeißfliege.«
Er war davongeschlichen. Oder anders gesagt: Sie war immer davon ausgegangen, dass er davongeschlichen war. Ihre harten Worte und die darauffolgende Tat fanden an einem anderen, unwirklichen Ort statt. Alle Regeln und Gesetze waren aufgehoben. Vom Gesetz der Schwerkraft bis zu den zehn Geboten. Was danach geschah, war eine Sache zwischen ihr und ihrem Gott und niemand anderem. Zumindest hatte sie das immer gedacht.
Das Telefon klingelte. Es war der Fraktionsvorsitzende, sein Schnaufen erinnerte sie an ein altes Pferd.
»Wir müssen uns zusammensetzen, Francesca. Ich habe gerade einen Anruf bekommen von einem Journalisten, der meint, zu wissen, dass du dein eigenes Kind umgebracht hast.«
»Und?«
Sie fühlte sich überraschend ruhig, sowohl innerlich als auch äußerlich.
»Er hat gesagt, die wollen die Geschichte nächste Woche bringen.«
»Das ist Erpressung. Die wollen, dass ich meine Kandidatur zurückziehe.«
»Davon hat er nichts gesagt. Ich glaube, die werden in jedem Fall veröffentlichen.«
»Sag ihm, dass er sich zum Teufel scheren kann.«
»Das kann ich nicht. Du darfst nicht vergessen, dass du auch der Gruppe gegenüber Verantwortung hast.«
»Du willst also, dass ich zurückziehe?«
Sein Atem klang wie ein Blasebalg, und sie spürte, wie ihr der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
»Das kommt ganz darauf an, wie es mit der Wahrheit aussieht. Bisher lag die Presse ja immer richtig. Wie lautet die Wahrheit, Francesca? Kannst du mir das verraten? Kannst du mir garantieren, dass es eine Lüge ist?«
KAPITEL 65
Svendsen bellte so laut, als würde ein maskierter Mörder hinter der nächsten Ecke stehen, bereit, das Haus mit seiner AK47 zu zersieben.
Dicte sah durch das Fenster, wie Wagners schwarzer Passat in die Auffahrt bog. Er hielt neben der Hecke, die Bo hatte schneiden wollen – spätestens bis Sankt Johannistag, versprochen. Das war drei Monate her. Im Wagen saßen zwei Personen. Wagner und Lena Lund. Sie fand das zu früh, viel zu früh. Der Südostjütländischen Polizei konnte es unmöglich gelungen sein, die Verbindung zwischen My und ihr herzustellen und dann die Ostjütländischen Kollegen von der Mordkommission kontaktiert zu haben. Es musste etwas anderes sein, was die beiden zu ihrer Expedition aufs Land bewegt hatte.
Die stiegen aus und warfen die Türen zu. Ein schönes Paar, fand Dicte.
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