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Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt

Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt

Titel: Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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bekamen schnell einflussreiche Freunde und nützliche Kontakte. Sie hatten den Ruf als respektable Mitbürger, die ein soziales Gewissen besaßen und den Willen zeigten, sich für die Insel einzusetzen, die alle liebten.
    Sie war so jung und so dumm gewesen. Sogar als die Gewalt in ihr Leben Einzug hielt, zuerst in kleinem, dann in immer größerem Stil, hatte sie das nur als eine logische Erweiterung seiner Kontrolle über sie gesehen. Es wäre ihr nicht eingefallen, Fragen zu stellen.
Sie
musste den Fehler begangen haben, sonst wäre sie nicht bestraft worden. Sie hatte seine Erwartungen nicht erfüllt. Die Bestrafungen, hatte er ihr gesagt, seien sein pädagogisches Mittel und sollten sie für das Schlechte in der Welt rüsten. Sie sollten sie stärken, sie gegen Schmerzen und Enttäuschung durch andere immun machen. Und auf eine sonderbare, verdrehte Weise war ihm das auch gelungen. Es funktionierte, hatte sie zwischendurch voller Dankbarkeit gedacht. Die gebrochenen Rippen, die blauen Flecken und Ergüsse von seinen Würgegriffen. Das alles machte sie unfähig, irgendetwas zu spüren. Das Problem war nur, dass sie auch keine Freude am Leben empfinden konnte. Alles wurde eins. Es gab den Schmerz, und es gab die Abwesenheit von Schmerz, und manchmal zog sie den Schmerz vor, weil sie dann wenigstens spürte, dass sie am Leben war.
    Erst viele Jahre später – nach Jonas’ Tod – hatte sie das alles mit klarerem Blick sehen können: wie er sie manipuliert hatte, damit er ihr Leben unter Kontrolle hatte und sie ihm fügsam folgte. Und das, obwohl sie nach Dänemark zurückkehrten, siedas BWL-Studium beendete und sich für Politik zu interessieren begann. Und auch trotz der Geburt ihres Sohnes. Oder vielleicht gerade wegen der Geburt. Ein Ereignis, das der Anfang vom Ende war und schließlich dazu führte, dass sie sich endlich von ihm trennte.
     
    Sie ging durch ihr Haus und ließ die Finger über die Designermöbel gleiten, über die italienischen Aquarelle, die sie bei dem Künstler persönlich in Neapel gekauft hatte, über das große Bett im Kolonialstil, ein Erbstück ihrer Mutter, und auch über den Jesus am Kreuz, der wie immer teilnahmslos an der Wand über dem Bett hing. Sie hatte es geschafft. Sie hatte sich Williams entledigt, so, wie eine Schlange ihre Haut abstreift. Die zusätzliche Haut, die er ihr übergezogen hatte, war vernichtet worden. Nichts von ihm war übriggeblieben, außer ein paar wertvollen Schmuckstücken, die sie geistesgegenwärtig behalten hatte. Aber nichts von Bedeutung. Er hatte ihr Leben verlassen, und so war es auch jetzt noch. Besonders jetzt.
    Aber es hatte einen hohen Preis gehabt, ihn loszuwerden. Es hatte Kraft und Zeit gekostet. Und es war auf Kosten ihrer Erinnerung gegangen. Denn sie hatte sich nicht erinnern können. Mit dem Abtöten des unvorstellbaren Schmerzes hatte sie gleichzeitig etwas anderes verloren. Das wurde ihr deutlich, als sie heute bei William gesessen hatte, und deshalb war dieser Besuch auch nicht umsonst gewesen. Das Wiedersehen mit ihm hatte sie nämlich nicht nur an das erinnert, was sie gehasst, sondern auch an das, was sie geliebt hatte.
    Sie ging ins Badezimmer, zog sich aus und blieb eine Weile nackt vor dem Spiegel stehen, beglückt darüber, dass dieser Körper ihm nie wieder Zugang gewähren musste. Sie ließ das warme Wasser über ihn laufen und wusch alles weg, den Wangenkuss, seine Hand auf ihrer Schulter zum Abschied, die Berührung seiner Möbel. Sie wusch den Anblick des Gemäldes mit dem zu Tode erschreckten Fuchs und die Erinnerung an den Kanarienvogel in seinem Käfig ab.
    Nach der Dusche wickelte sie sich in ihren Bademantel ein. Sie setzte den Kessel mit Wasser auf, mahlte Kaffeebohnen und holte die Espressokanne aus dem Schrank. Sie machte sich einen starken Kaffee, setzte sich ins Wohnzimmer, die Füße auf dem Sofa und den Kaffee in Reichweite.
    Mit nur wenigen Worten war es William gelungen, ihre Erinnerung zu aktivieren. Wie hatte sie das nur alles vergessen können? Wie hatte sie nur den Jungen vergessen können? Wie hatte sie ihr eigenes schlechtes Gewissen vergessen können?
    Es war ein sonniger Tag gewesen. September und blauer Himmel. Jonas war fünf Jahre alt. Sie hatte wie immer an Jonas’ Bett gewacht und sich in einem Zustand zwischen Realität und Unwirklichkeit befunden. Und plötzlich hatte sie alles ganz klar gesehen, sie erkannte, dass die vergangenen drei Jahre von einer angsterfüllten Kenntnis einer Zukunft

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