Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
eigene Familie. War die so anders? Alexander, der beim Diebstahl erwischt worden war und jetzt auch noch die Schule schwänzte. Der Embryo mit Down-Syndrom, der in ein paar Tagen aus Ida Maries Gebärmutter entfernt werden würde. Wenn es in seiner Macht stünde, würde er dann nicht auch dafür sorgen, dass diese Information den inneren Kreisnicht verließ? Allerdings hatte ihm seine berufliche Erfahrung gezeigt, dass gerade familiäre Geheimnisse häufig die Aufklärung eines Falls behinderten. Die einzelnen Mitglieder deckten sich aus den unterschiedlichsten Gründen, die überhaupt nichts mit dem eigentlichen Verbrechen zu tun haben mussten. Untreue, Eifersucht, missverstandene Loyalität und Wunsch nach Diskretion. Wenn es drauf ankam, zählte die Zugehörigkeit zu einem Clan, und die Rücksichtnahme auf seine Nächsten hatte Vorrang.
Er lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und sah hinunter auf den Parkplatz vor dem Präsidium. Er fasste alle Details des Falls zusammen. Sie waren mittlerweile sicher, dass zum Zeitpunkt des Mordes an Adda Boel neben Peter Boutrup noch eine weitere Person in ihrer Wohnung gewesen war. Lena Lund verdächtigte Dicte Svendsen, aber das konnte er sich nicht vorstellen. Seine Vermutung war vielmehr, dass Lena Lunds Verdacht von ihrem Ehrgeiz genährt wurde und von dem Drang, ihre Versetzung und Hartvigsens Entscheidung zu rechtfertigen, sie als Wächterin der Moral in Sachen Selbstjustiz einzusetzen. Jetzt war als neuer Ermittlungsansatz die Vier-Millionen-Erbschaft dazugekommen, die aufgrund schlechter Beratung und der weltweiten Finanzkrise verlorengegangen war. Ein Fanatiker konnte mit Leichtigkeit Adda Boel die Schuld für den Verlust des Geldes zuschreiben. Sie hatte sich dafür eingesetzt, das Geld zu investieren und vor allem auch wie und wo es eingesetzt werden sollte. Peter Boutrups DNA war in Adda Boels Körper gefunden worden. Die Frage aber blieb, wie es ihnen gelingen sollte, ihn, den Sohlenabdruck und die vier Millionen in Zusammenhang zu bringen.
Er hatte gerade beschlossen, sich in der Kantine einen Happen zu holen, als das Telefon klingelte. Es war Weinreich, der ihm mitteilte, dass Omar Said ihn sprechen wolle. Er versuchte Lena Lund zu erreichen, aber sie war weder über das Mobiltelefon noch übers Funkgerät zu erreichen. Das musste er ansprechen oder ihr sogar einen Verweis dafür geben. Also entschieder sich dafür, Ivar K mit ins Krankenhaus zu nehmen. Omar Said saß aufrecht in seinem Krankenbett, er war ganz allein, von den vielen Angehörigen fehlte jede Spur. An diesem Tag war er gesprächiger als bei ihrer ersten Begegnung.
»Die sagen, ich soll mit Ihnen sprechen.«
In Wagners Ohren klang es, als würde ein Oberbefehlshaber seine Untergebenen zum Appell rufen.
»Wer sagt das?«
Said warf den gesunden Arm in die Luft. »Ich erinnere mich nicht an seinen Namen. Derjenige, der sich mit den Bandenkriegen beschäftigt.«
»Weinreich? Er hat gesagt, Sie sollen mit mir sprechen? Über was denn?«
Wagner fühlte sich nicht wohl. Offenbar hatte Weinreich die Initiative für ihn ergriffen und eine Grenze überschritten, die er selbst nicht passiert hätte. Er wusste, was gleich kommen würde.
»Meine Mutter ist krank. Sie hat Krebs. Und sie wartet auf eine Behandlung, aber nichts geschieht. Und der Krebs kann sich weiter ausbreiten.«
Ivar K schob einen Stuhl an die Tür und setzte sich darauf wie ein Sheriff in einer Westernstadt vor sein Gefängnis, ausgestreckte Beine, die Arme vor der Brust verschränkt. Wagner nahm einen Stuhl neben Saids Bett. In den Augen des jungen Mannes sah er echte Sorge. Zweiundzwanzig Jahre alt und eine Mutter auf der Onkologie. Das war nicht schön, auch wenn man ein Bandenmitglied war. Und jetzt sollte diese Mutter als Ware missbraucht werden und auf diese Weise zu einer entscheidenden Figur im Krieg um den Drogenmarkt werden.
»Das tut mir für Sie und Ihre Familie sehr leid. Aber ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.«
»Er hat gesagt, dass Sie mir helfen können. Fäden ziehen und so. Verdammt Mann, ich liege hier nur rum … Ich muss etwas tun.«
Das Unbehagen kroch Wagner den Nacken hoch, und derDrang, die Sache fallenzulassen und sie anderen zu überlassen, war mit einem Mal übermächtig. Aber wenn er jetzt einen Rückzieher machte, dann müsste ein anderer die unangenehme Entscheidung treffen, ob es ethisch vertretbar war, die Behandlung einer tödlichen Krankheit als Druckmittel in einem Mordfall
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