Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
William und seine dritte Schwester waren unvermeidlich Träger des Gens, bei ihnen brach aber die Krankheit nicht aus.«
»Hatte Ihr Mann Ihnen nichts von dem Risiko erzählt?«
Francesca schüttelte den Kopf.
»Er hatte das nicht als Krankheit akzeptiert. Für ihn war das eine Schwäche des Geistes, die sich im Körper manifestierte. Sich einzugestehen, dass es eine Krankheit war, wäre gleichbedeutend gewesen mit dem Eingeständnis, dass mit ihm etwas nicht stimmte.«
Sie sah Dicte an. »Und mit William stimmte immer alles. Aber nicht nur das. Er konnte auch nichts falsch machen.«
»Und dann kam Jonas?«
Francesca hatte wieder das Kreuz zwischen den Fingern. Die Rubine glitzerten in dem einen Sonnenstrahl, der seinen Weg ins Wohnzimmer gefunden hatte und die Staubpartikel zum Tanzen brachte. Ihre Stimme klang auf einmal ganz mild.
»Ja, und dann kam Jonas. Er wurde krank, als er zwei Jahre alt war.«
»Und wie zeigte sich die Krankheit?«
»Es fing mit epileptischen Anfällen an, aber schon mit drei Jahren war er vollkommen erblindet, geistig behindert und hatte akute motorische und sprachliche Probleme. Die Krankheit verursacht einen schnellen und grauenvollen Verlust an Nervenzellen. Das erwartete Lebensalter liegt zwischen zehn und fünfzehn Jahren.«
Francesca richtete ihren Blick auf Dicte, eindringlich und wissend, dass sich niemand wirklich in ihre Lage versetzen konnte.
»Sie wissen, dass Ihr Kind sterben wird. Es ist ein sehr schmerzvoller Tod. Jeder Tag bringt größere Schmerzen, größeres Leid für den Menschen, den man über alles liebt. Man kann nichts machen, es gibt keine Behandlung, keine Hoffnung. Versuchen Sie, sich das vorzustellen.«
Es war, als würde sich das rote Licht des Aufnahmegerätes in ihren Augen spiegeln, wenn sie sprach. Als würde sich dahinter noch ein anderes Leben verbergen.
»Der Tag, an dem das alles geschah, war der schlimmste gewesen. Er hatte viel mehr Anfälle gehabt als je zuvor. Das Ganze spitzte sich zu. Ich war vollkommen erschöpft, hatte seit Wochen Tag und Nacht an Jonas’ Bett gewacht. Ich befand mich in einem Zustand, der nichts mit dem Leben anderer zu tun hatte.«
Wieder griff sie nach dem Kreuz um ihren Hals, rieb es, ließ es wieder los, rieb es erneut, ließ es wieder los.
»Es war einfach und schmerzfrei. Er schlief. Ich nahm ein Kissen, und er hörte einfach auf zu atmen.«
Schweigen breitete sich aus, als wäre die Tat in diesem Raum geschehen. Die rote Lampe erlosch, als hätte sie jemand mit seinem letzten Atemzug ausgepustet. Dicte versuchte, sich in die Situation hineinzuversetzen. Die Entscheidung, die man treffen musste. Die Alternative. Die Tat. Und hinterher?
»Wie lebt man mit so etwas weiter?«
Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht.
»Man sagt sich, dass es gar keine andere Wahl gab. Und man entscheidet sich dafür, für andere Kinder zu kämpfen, für ein besseres Leben, um jenen eine Alternative zu bieten, die bei ihrer Geburt in der falschen Schublade gelandet sind. Unabhängig davon, ob es sich dabei um eine Krankheit handelt, den sozialen Status oder etwas anderes.«
»Das heißt, es gibt eine direkte Verbindung von ihrem kranken Kind zu der Position, an der Sie heute stehen?«
»Na ja. Vielleicht keine direkte Verbindung, aber eine Verbindung gibt es da schon, ja. Ich will dafür kämpfen, dass Kinder und Jugendliche in einem gesünderen Umfeld aufwachsen.Sie sollen nicht verwöhnt, vollgestopft und in Watte gepackt werden, aber die Möglichkeit bekommen, ihre Fähigkeiten zu nutzen, zu zeigen, dass sie jemand sind und etwas können.«
»Und die Kinder vom Kinderheim? Die Titan-Kinder? Was ist mit denen? Wie gehören die in das Bild?«
Es kribbelte am ganzen Körper. Welchen Platz hatten Peter B und My in dieser Geschichte? Wo war deren Ende, deren Happy End mit Haus in Italien?
»Mit den Kindern hatte ich nicht viel zu tun. Das war Williams Aufgabe. Als Jonas auf die Welt kam, habe ich die meiste Zeit ohnehin mit ihm verbracht. Aber es gab einen. Ein Kind. Einen Jungen.«
»Ja?«
»Er kam als Sechsjähriger zu uns. Ich hatte schon so lange gekämpft, um endlich schwanger zu werden, und er kam zum richtigen Zeitpunkt in mein Leben. Seiner habe ich mich angenommen, und er folgte mir überallhin wie ein kleiner Hund. Aber als ich Jonas bekam, habe ich ihn immer weniger an mich rangelassen, ihn verstoßen. Am Ende hatte ich einfach keine Kraft mehr für ihn übrig. Er war älter geworden und nicht
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